Das Geheimnis des Viscounts
gefragt, was ich am allerliebsten essen würde. Erinnerst du dich?"
Er nickte.
„Das ist es: Milchpudding. Als ich klein war, gab es jedes Jahr einen zu Weihnachten. Die Köchin hat ihn rosa eingefärbt und mit Mandeln verziert. Weil ich die Jüngste war, habe ich immer die kleinste Portion bekommen, aber es war köstlich. Süß und cremig. Ich habe mich immer schon Wochen vorher darauf gefreut."
„Wenn du willst, essen wir von jetzt an jeden Abend Milchpudding", meinte Jasper.
Melisande schüttelte den Kopf und musste sich ein Lächeln verkneifen. „Nein, dann wäre es ja nichts Besonderes mehr. Milchpudding gibt es nur an Weihnachten."
Eine köstliche Vorfreude erfüllte sie bei dem Gedanken, das Weihnachtsfest mit ihm gemeinsam zu verbringen. Konnte es Schöneres geben?
„Dann eben nur an Weihnachten", sagte Jasper so ernst, als gelte es einen Vertrag zu besiegeln. „Aber ich bestehe darauf, dass du eine große Schüssel ganz für dich allein bekommst."
Nun musste sie wirklich lächeln. „Was sollte ich denn ganz allein mit einer großen Schüssel Milchpudding anfangen?"
„Du könntest herumferkeln", sagte er, noch immer ganz ernst. „Du könntest dich in rosa Pudding suhlen oder alles auf einmal essen. Oder du könntest den Pudding horten, meinetwegen bis Ostern, um ihn jederzeit anschauen zu können und dir vorzustellen, wie köstlich er schmeckt, wie cremig und süß ..."
„Papperlapapp", lachte sie.
„Du könntest auch jeden Abend einen winzigen Löffel davon essen. Einen Löffel nur, und ich würde dir bei Tisch gegenübersitzen — ganz grün vor Neid, dass du rosa Pudding hast und ich nicht."
„Bekommst du denn keinen Pudding zu Weihnachten?"
„Nein, und deshalb ist deiner ja so etwas Besonderes." Er lehnte sich in die Polster zurück und verschränkte die Arme, sichtlich zufrieden mit sich. „Genau, so machen wir das. Du bekommst jedes Jahr zu Weihnachten eine Schüssel Milchpudding von mir. Soll keiner sagen, dass ich kein spendabler Gatte wäre."
Melisande verdrehte ob seines törichten Geschwätzes die Augen, musste aber dennoch lächeln. Weihnachten würde wunderbar werden.
Sie kamen zügig voran und trafen rechtzeitig zum Abendessen bei Tante Esther ein.
Gerade als sie vorfuhren, verabschiedete die Tante ein anderes Paar, das vermutlich zum Tee zu Besuch gewesen war. Im ersten Moment erkannte Melisande die beiden nicht, dann wurde ihr bewusst, dass es Timothy und seine Frau waren. Sie beobachtete ihn durch das Kutschenfenster; ihre erste große Liebe. Früher einmal hatte sein bloßer Anblick ihr den Atem geraubt. Jahre hatte sie gebraucht, um über Timothy hinwegzukommen. Nun war die Erinnerung an ihren Verlust nur mehr ein dumpfer Schmerz, etwas, das gar nicht mehr zu ihr gehörte — fast so, als wäre all das einer anderen, einem jungen und noch sehr naiven Mädchen passiert. Und auf einmal dachte sie: Gott sei Dank. Gott sei Dank, dass sie ihn nicht geheiratet hatte.
Ihr gegenüber brummelte Jasper grimmig vor sich hin, dann sprang er mit einem Satz aus der Kutsche.
„Tante Esther!", rief er, als hätte er das Paar gar nicht bemerkt. Freudestrahlend eilte er seiner Tante entgegen und rempelte in seinem Überschwang Timothy Holden an — ganz beiläufig, versteht sich. Der taumelte, und Jasper machte sogleich Anstalten, ihn aufzufangen. Dabei musste er dem arglosen Mann einen weiteren Stoß versetzt haben, denn Timothy landete mit dem Allerwertesten im Straßendreck.
„Oh je", murmelte Melisande und kletterte eilig aus der Kutsche, bevor ihr Gatte ihren Verflossenen mit seinen kleinen „Gefälligkeiten" noch umbrachte. Mouse sprang an ihr vorbei und kläffte den auf dem Boden Liegenden an.
Noch ehe sie bei den beiden angelangt war, hatte Jasper auch schon seine Hand ausgestreckt, um Timothy aufzuhelfen. Und Timothy, dieser leutselige Dummkopf, nahm die ihm gereichte Hand dankend an. Melisande hätte sich am liebsten die Augen zugehalten. Jasper zog ihn hoch, allerdings etwas zu heftig, so dass Timothy emporschnellte wie ein Korken aus der Flasche und gegen Jasper prallte. Der beugte sich grimmig über ihn, und auf einmal wurde Timothy aschfahl. In heller Panik sprang er zurück, schlug jede weitere Hilfe aus und scheuchte seine Frau hastig zur Kutsche.
Mouse schickte ihm ein befriedigtes Bellen hinterher, sichtlich erfreut, ihn vertrieben zu haben.
Jasper bückte sich, streichelte ihn und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin Mouse eifrig mit dem Schwanz
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