Das Geheimnis des Viscounts
nicht mehr empfunden hatte: Glück. Ungläubig sah er seine Frau an, die so sehr von seinem Können überzeugt schien, so sehr seines Mutes und seiner Tapferkeit gewiss war, dass er nur dachte: Bitte, lieber Gott, lass sie niemals die Wahrheit herausfinden .
Sie wünschte, Jasper schlicht sagen zu können, dass sie nicht länger von ihm getrennt schlafen wollte. Dieser Gedanke ging Melisande am Abend durch den Sinn, als sie abermals im Hof eines Gasthauses stand — diesmal eines recht großen — und den Stallburschen dabei zusah, wie sie die Pferde abschirrten. Jasper redete mit dem Wirt und besorgte ihnen ein Zimmer für die Nacht.
Oder vielmehr ihr.
Denn wie es aussah, war das Haus fast vollständig belegt; nur ein Zimmer schien noch frei. Doch statt es mit ihr zu teilen, gedachte Jasper im Gemeinschaftsraum zu nächtigen. Gott weiß, was der Wirt sich dabei dachte. Und die Bediensteten. Seufzend sah sie zu dem Lakaien hinüber, der Mouse an der Leine ausführte — oder vielmehr von Mouse ausgeführt wurde. Wie ein Verrückter zog der kleine Terrier am Leder, zerrte den armen Mann hinter sich her zu einem Pfosten, hob kurz das Bein und hechelte zum nächsten.
„Fertig, meine Liebe?"
Melisande sah auf und stellte fest, dass ihr Mann seine Verhandlungen mit dem Wirt beendet hatte.
Sie nickte und nahm seinen Arm. „Ja."
„Mouse wird dem Lakaien den Arm ausrenken", bemerkte Jasper, als sie hinüber zum Haus gingen. „Wusstest du, dass sie darum würfeln, wer ihn abends ausführt?"
„Der glückliche Gewinner darf ihn ausführen?", fragte sie, als sie das Hauptgebäude betraten.
„Nein, der Verlierer", erwiderte er und runzelte angesichts des Lärms, der ihnen entgegenschlug, irritiert die Stirn.
Aus dem Schankraum drang dröhnendes Gelächter. Es war ein altes Wirtshaus, mit schweren, geschwärzten Balken, welche die niedrige Decke trugen. Zahlreiche runde, auch schon recht betagte Tische standen über den Raum verteilt, ein kräftiges Feuer prasselte im Kamin. Alle Tische waren von Reisenden besetzt zumeist Männer —, die beim Bier saßen und mit gutem Appetit ihr Abendessen verspeisten.
"Hier entlang", sagte Jasper und führte sie auf der anderen Seite des Korridors in ein kleines Hinterzimmer. Gerade hatte sie sich gesetzt, als der Lakai Mouse zurückbrachte. Sofort kam der Terrier angetrottet und verlangte nach Streicheleinheiten. „Und, Sir Mouse, wie ergeht es Euch? Hattet Ihr einen erquicklichen Verdauungsspaziergang?"
„Fast hätte er 'ne Ratte gefangen, Mylady", meldete der Lakai. „Drüben im Stall. Flink wie ein Wiesel, der Kleine."
Melisande lächelte Mouse an und zauste ihm die Ohren. „Gut gemacht."
Der Wirt kam mit einer Flasche Wein hereingeeilt, gefolgt von einem Mädchen, das den Hammeleintopf brachte. Eine Weile herrschte geschäftige Betriebsamkeit in dem kleinen Zimmer, ehe sie und Jasper wieder allein waren.
„Morgen ...", begann er, wurde jedoch vom Gegröle aus dem Schankraum unterbrochen.
Finster sah Jasper zur Tür. Dann schaute er Melisande über den Tisch hinweg an, die Brauen über seinen blaugrünen Augen zusammengezogen. „Du solltest deine Tür heute Nacht abschließen und dein Zimmer nicht mehr verlassen. Dieser Pöbel gefällt mir nicht."
Melisande nickte. Wenn es möglich war, schloss sie immer die Tür ab oder stellte zumindest einen Stuhl davor. Zudem schlief Jasper ja auch meist gleich nebenan.
„Gestern Nacht war dein Zimmer nicht verschlossen", erinnerte er sie.
Schweigend sah sie ihn an und fragte sich, ob auch er gerade an ihre leidenschaftliche Begegnung dachte. „Es gab kein Schloss."
„Ich werde einem der Lakaien sagen, dass er vor deinem Zimmer schlafen soll."
Danach beendeten sie ihre Mahlzeit in einvernehmlichem Schweigen. Als Melisande mit Mouse auf ihr Zimmer ging, war es schon nach zehn. Sally legte ihrer Herrin eine frische Chemise heraus und gähnte verstohlen. Das Zimmer war klein, aber sauber; es gab ein Bett und vor dem Kamin einen Tisch mit ein paar Stühlen. An der Wand neben der Tür hingen sogar zwei winzige Gemälde. Melisande trat näher und erkannte Pferde darauf.
„Wie war das Abendessen?", fragte sie ihre Zofe und trat ans Fenster. Das Zimmer ging auf den Hof hinaus.
„Gut, Mylady", erwiderte Sally. „Aber ehrlich gesagt mag ich Hammel nicht so besonders."
„Nein?", fragte Melisande zerstreut und begann ihr Kleid aufzuschnüren.
„Lassen Sie mich das machen, Mylady", sagte Sally und eilte herbei. „Nein,
Weitere Kostenlose Bücher