Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
ihren Großvater charakteristischen Hakennase, den markanten Wangenknochen und dem leicht vorgeschobenen Kinn war noch keine Spur zu entdecken. Es war Greta stets schwergefallen, in diesem dicklichen Jungen ihren hochgewachsenen, hageren Großvater wiederzufinden. Der scheue Blick und das zaghafte Lächeln riefen in ihr nichts Bekanntes wach. Es war, als würde sie einen Fremden betrachten. Einen in sich gekehrten Jungen, jemanden, der sich lieber in ein Spiel oder Buch vertiefte, anstatt draußen Abenteuer zu erleben. Aber so ein Typ war Arjen nicht, er liebte Gesellschaft, mochte die Menschen manchmal mehr, als sie es verdienten, und war beherzt durchs Leben gegangen. Je länger Greta über diesen Widerspruch nachdachte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass es auf Arjens Lebensweg einen folgenschweren Einschnitt gegeben haben musste.
»Der Winter wird in diesem Jahr früh kommen«, unterbrach Arjen ihre Grübeleien, auch wenn er mehr zu sich selbst gesprochen hatte.
Die Worte passten wenig zu dem lauen Septembertag mit seinem goldenen Licht. Es herrschte eine viel zu große Farbenvielfalt in den Blumenbeeten, und das Grün war noch zu satt, um an die dunkle Jahreszeit überhaupt zu denken. Selbst das Holz der Bank war von der Sonne ganz warm. Trotzdem überkam Greta plötzlich eine Ahnung von Kälte, als duftete es nicht nach Astern und Fallobst, sondern als läge bereits eine Spur von Frost in der Luft.
»Sag mal, ist vor kurzem etwas vorgefallen, wovon ich keine Ahnung habe?«
Obwohl Greta ihren ganzen Charme in ihre Stimme legte, reagierte Arjen nicht, sondern saß in Gedanken versunken da. Dann richtete er sich auf und schenkte ihr ein Lächeln. »Nun, es gibt tatsächlich eine Neuigkeit, aber ich bin ein Gentleman und werde sie deshalb nicht verraten. Bestimmt wirst du es heute Abend von ganz allein herausfinden, wenn du deine Mutter im Auge behältst. Nur so viel: Dein Angebot der ›gemeinsame Zeit‹ kommt genau richtig – davon einmal abgesehen, dass es die perfekte Idee ist, um Großväter Tränen der Rührung vergießen zu lassen. Ich frage mich nur, ob du nicht zu großzügig bist. Wirst du denn in Zürich nicht vermisst werden?«
»Nein, Zürich ist ein Kapitel aus der Vergangenheit, dort gibt es niemanden, der auf mich wartet.«
»Bist du dir sicher?«
Eine schlichte Frage, ohne eine Spur von Neugierde oder gar Mitleid. Greta war ihrem Großvater äußerst dankbar dafür, dass er ihr die Entscheidung zugestand, über ihre Trennung zu sprechen. Und im Augenblick verspürte sie nicht das geringste Verlangen, Erik in den Bannkreis dieses Nachmittags eindringen zu lassen. »Absolut«, bekräftigte sie deshalb. »Mir steht ein Neuanfang bevor, in so ziemlich jeder Hinsicht.«
Wie erwartet nickte Arjen. »Für Neuanfänge ist es nie zu spät. Das ändert jedoch nichts daran, dass es zwecklos ist, vor seiner Vergangenheit davonzulaufen. Früher oder später holt sie einen ein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Ein erstauntes Lachen kam über Gretas Lippen. »Du? Soviel ich weiß, hast du im Großen und Ganzen ein Leben geführt, mit dem du im Reinen sein kannst, in dem alles zusammengepasst hat. Ein sauber gespannter Bogen – wenn man so sagen kann.«
»Das mag wohl stimmen, wenn man den Bogen ab dem Moment spannt, in dem ich zum Studium nach Heidelberg gegangen bin. Meine Kindheit …« Arjen blickte Greta mit einer solchen Intensität an, dass sie betreten das Gesicht abwandte. »Jetzt weiß ich, warum mich dein neuer Haarschnitt so fasziniert«, erklärte er. »Von der Seite betrachtet siehst du deiner Urgroßmutter Magda zum Verwechseln ähnlich. Das Profil, die Nackenlinie … Als säße sie plötzlich wieder neben mir.« Arjen verstummte, als sei diese Ähnlichkeit mehr, als er ertragen konnte. Und auch Greta wusste es nicht besser, als ihre Hand auf seine zu legen.
Magda Rosenboom … Für Greta war Arjens Mutter eine Märchengestalt, von der man nur leise sprach, als wöge ihr Verlust immer noch schwer. Magda musste tatsächlich etwas Besonderes gewesen sein, denn ihr war es schließlich gelungen, das Herz des als unnahbar geltenden Junggesellen Thaisen Rosenboom zu erobern. Und soviel sie wusste, hatte Magdas Wirkung auf den zwanzig Jahre älteren Mann niemals nachgelassen, obwohl er ansonsten wenig auf seine Mitmenschen gab – trotz seines Pastorenamts. Und ihrem Sohn war es nicht anders ergangen, auch wenn er seine Mutter früh verloren hatte. Als Arjen noch ein Kind
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