Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Erinnerungen beginnen nicht umsonst erst im Sommer 1939. Im Herbst diesen Jahres sollte ich zwölf Jahre alt werden, und Deutschland würde einen Krieg beginnen, der sich wie ein Flächenbrand ausbreiten und Europa fast in den Abgrund reißen würde. In den Monaten, bevor die Wehrmacht in Polen einfiel, herrschte bereits eine vor Erwartung knisternde Stimmung, die ein Gefühl von Unbesiegbarkeit und Ungeduld hervorrief. Sogar mich erreichte diese besondere Stimmung. Es lag in der Luft, dass die Dinge sich ändern würden.«
Bei diesen Worten fühlte Greta eine Unruhe in sich aufsteigen. Es war, als streife sie etwas Unsichtbares, ein Stück Vergangenheit, das einen Ton in ihrem Inneren auslöste. Ganz fein, fast zu leise, um ihn wahrzunehmen … Und zum ersten Mal erahnte sie etwas Bedeutsames hinter Arjens Schweigen. Etwas, das nicht ihn allein betraf, sondern auch sie. Als würde ein jahrzehntealtes Geheimnis sie berühren, als hätte sein Nachhall in diesem Augenblick auch sie erreicht. Oder hatte sie ihn bislang bloß überhört?
»In deiner Kindheit gab es also einen Bruch in deinem Leben, der alles verändert hat?«, fragte Greta vorsichtig nach. Die aufziehende Kühle des anbrechenden Abends hatte sie genauso vergessen wie den Gesang und die Stimmfetzen, die vom Backsteinhaus herüberdrangen und daran erinnerten, dass nur einige Schritte entfernt ein Fest stattfand. Als ihr Großvater nicht antwortete, hakte Greta nach: »Arjen, was ist damals in deiner Kindheit vorgefallen, über das du bis heute nicht reden kannst?«
»Es fällt mir sehr schwer, überhaupt daran zu denken. Schließlich habe ich all die Jahre mit aller Kraft versucht, es zu vergessen.«
Bei diesem Geständnis wurde Arjens Stimme so rau, dass Greta überlegte, ihm rasch etwas zu trinken zu holen. Aber sie durfte sich nicht rühren, sonst würde er vielleicht nicht von diesem längst vergangenen Sommer erzählen. Arjens Blick ging ins Leere, als er ungewohnt zögerlich weiter sprach, geradezu suchend. Es schien, als taste er sich zum ersten Mal bewusst an diese weit zurückliegende Zeit heran. Und sogleich überkam Greta die Gewissheit, dass diese Erzählung mehr bedeuten würde als alle anderen zuvor. Sie berührte auf eine unerklärliche Weise ihr eigenes Leben, als gäbe es zwischen ihnen eine bislang unsichtbare Verknüpfung.
»Der Sommer 1939 veränderte alles«, sagte Arjen. »Mich und damit den Verlauf, den mein Leben nehmen sollte. Es begann mit einer schicksalshaften Begegnung.«
4
BEEKENSIEL, SOMMER 1939
In der Nacht stürmte und gewitterte es heftig. Der Lärm ließ Arjen vergessen, dass es den Tag über stickig und so warm gewesen war, dass man es selbst im Schatten kaum aushalten konnte. Mit den ersten Regentropfen hatte es sich dann schlagartig abgekühlt, und der aufbrausende Wind hatte die letzten Reste der Schwüle hinfortgefegt.
»Nun zuck’ doch nicht jedes Mal zusammen, wenn der Donner grollt.« Thaisen Rosenbooms struppige Augenbrauen fuhren missbilligend zusammen, als er seinen elfjährigen Sohn betrachtete, der vollständig bekleidet neben ihm am Küchentisch saß. »Dieses Haus steht seit fast zweihundert Jahren, da wird gewiss nicht heute der Blitz ins Reet einschlagen, auch wenn es allein auf weiter Flur zwischen den Wiesen steht. Die Blitze zieht es zum Kirchturm des Dorfs, was mir – ehrlich gesagt – sehr viel mehr Sorgen bereitet. Bei einem Einschlag wäre die ganze Arbeit, die ich mir beim Einsammeln der Spenden gemacht habe, umsonst gewesen.«
»Aber eine Böe könnte das Dach wegreißen. Ob das schon einmal passiert ist, kannst du ja nicht wissen. Oder ein Blitz schlägt in die Erlenallee vorm Haus ein, und dann brennen wir bis auf die Grundmauern ab, weil die Freiwillige Feuerwehr sich nicht blicken lässt, nachdem du sie als gottlosen Säufertrupp bezeichnet hast«, fügte Arjen so leise hinzu, dass sein Vater ihn nicht verstand. Gelegentlich war seine Schwerhörigkeit von Vorteil.
»Dieses Überempfindliche ist ein Zeichen unserer Tage«, regte sich Thaisen weiter auf. »Lauter überhitzte Gemüter, die sich gut darin gefallen, sich zum Mittelpunkt der Dinge aufzuschwingen. Tugenden wie Demut und Bescheidenheit gehören endgültig der Vergangenheit an! Heute laufen selbst schlicht gestrickte Menschen wie dieser Denneburg mit stolzgeschwellter Brust herum, nur weil ihnen irgend so ein Hanswurst eine Plakette angesteckt hat. Und anders kann man diese Parteihansel doch nicht nennen. Sind das
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