Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Männer von edler Gesinnung, mit Bildung und von weitreichender Denkart? Wohl kaum. Früher wussten die einfachen Menschen, was sich für sie geziemt: Acker und Gotteshaus. Aber dank der Politik glauben sie heutzutage, die Geschicke der Welt bestimmen zu dürfen. Pah! Sie haben vergessen, dass wir alle fest in Gottes Hand sind.«
»Ich glaube nicht, dass Fred Denneburg und die anderen Parteimitglieder an Gott glauben.« Eigentlich wusste Arjen nicht recht, woran diese Leute überhaupt glaubten, obwohl es auch auf dem Gymnasium, das er besuchte, kaum ein anderes Thema gab als die Ideen und Pläne der Nationalsozialisten. Selbst die gutbürgerlichen Söhne zeigten sich vollauf begeistert, nur Arjen stand seltsam unberührt daneben, weder mit Kopf noch Herzen bei der Sache.
Thaisen nickte grimmig. »Der Anfang vom Ende. Sie beten den Führer an, als habe er ihnen eine neue Religion gegründet, dabei ist die Politik eine schmutzige Sache. Ich habe Dekan Albrecht erst vor wenigen Tagen deswegen angeschrieben, obwohl es sinnlos ist. Bestimmt wird er mir auch dieses Mal antworten, dass die NSDAP ein Ordnungsinstrument der Gesellschaft ist, das der Kirche zuarbeitet. Ein ausgemachter Unsinn.«
Ein härteres Schimpfwort würde nicht über Thaisens Lippen kommen, aber das war auch gar nicht nötig. Sein Sohn wusste auch so, dass Dekan Albrecht in den Augen seines Vaters genauso infiziert war von dem Wahn wie alle anderen auch. Thaisen Rosenboom war der letzte aufrechte Mann des Herrn, auch wenn ihm sein Stolz schon vor Jahren eine Versetzung von Hamburg-Altona nach Beekensiel mit seinen sechshundert Seelen eingebracht hatte. Arjen kannte die Tirade seines Vaters zur Genüge und blendete sie gekonnt aus. Ohnehin nahm ihn die unruhige Flamme der Öllampe in Beschlag, die aussah, als wäre sie ein einsames Licht in dieser sturmumwehten Dunkelheit. Ein weiterer Donner rollte über die Kate hinweg und brachte Arjen zum Schlottern.
»Ich sage dir doch: Dem Haus wird nichts zustoßen!« Thaisen schlug mit der Faust auf den Tisch. Er konnte Ungehorsam nicht ausstehen, und Arjens zitternde Hände bewiesen zweifelsohne, dass er nicht auf seinen Vater hörte, obwohl er eindeutig klargestellt hatte, dass sie sich in Sicherheit befanden, egal ob das Gebälk ächzte oder nicht. »Für deine Mutter – Gott hab’ sie selig – war dies der beste Platz auf Erden. Glaubst du, sie hätte dieses Haus für ihre Familie erwählt, wenn es nicht so gewesen wäre? Ich erwarte mehr Respekt, mein Sohn.«
Arjen presste die Handflächen so fest auf die Tischplatte, bis es schmerzte. Wenigstens gelang es ihm auf diese Weise, das Zittern zu kontrollieren. So schwer es ihm auch fiel, aber er musste Thaisen recht geben: Seine Mutter Magda hatte diese alte Kate geliebt und bei ihrem Anblick schlagartig die belebten Straßen von Altona vergessen. Vielleicht erreichten ihn die Worte seines Vaters nicht, aber er glaubte an seine Mutter. Während er versuchte sich an ihr immer mehr verblassendes Gesicht zu erinnern, vergaß er sogar das tosende Unwetter.
Am nächsten Morgen zeigte sich der Himmel in einem strahlenden Blau. Trotz des kühlen Windes, der Arjen beim Öffnen der Haustür begrüßte, ließ sich bereits erahnen, dass es schon bald warm werden würde. Nicht wie am Tag zuvor, als einem die Kleidung verschwitzt am Leib geklebt hatte und man kaum genug Luft in die Lungen hatte ziehen können. Dies würde sein erster richtiger Sommertag in diesem Jahr werden. Was für ein großartiger Beginn der großen Ferien! Anstatt in aller Herrgottsfrühe bei der Verbindungsstraße auf Jörg Claußen warten zu müssen, der ihn und zwei andere Jungen in seinem Wagen mit nach Aurich zum Gymnasium nahm, würde ihm der ganze Tag zur freien Verfügung stehen. Selbst für den Fall, dass sein Vater den Nachmittag in seinem Studierzimmer unterm Dach verbringen sollte, würde sich nichts daran ändern. Denn Thaisen erwartete von seinem Sohn, dass er seine Zeit eigenständig gestaltete – was nichts anderes hieß, als dass er ihn sich selbst überließ.
Arjen beschloss, die Gunst des Augenblicks zu nutzen und nicht auf ihre Haushälterin Dörchen zu warten. Für gewöhnlich war ihr gemeinsames Frühstück der Höhe punkt an Arjens freien Tagen, denn das Beisammensitzen und Plaudern gab ihm eine Ahnung von Familienleben. Seit seine Mutter Magda bei einem Unfall verstorben war, stellte Dörchen nicht nur die einzige weibliche Person in seinem Umfeld dar, sondern auch den
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