Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
winkte ab. »Um Himmels willen, das Essen im Kreis der Familie ist doch der Höhepunkt! Endlich sind wir wieder einmal alle vereint – abgesehen von der kleinen Agnes, die jetzt schon bettreif ist. Nach so einem langen Tag ist eine Abendgesellschaft zwar anstrengend, aber ich möchte meinen Geburtstag auskosten, als wäre er mein letzter. Da bin ich mit deiner Mutter ausnahmsweise einer Meinung.«
Greta konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wenn du Anette weiterhin die Regie überlässt, dann wird es bestimmt dein letzter Geburtstag sein. Mama muss es immer übertreiben, bestimmt endet die Feier mit einem Überraschungsfeuerwerk direkt unter deiner Nase, und du erleidest vor Schreck einen Herzinfarkt. Wenigstens kannst du dich in dem Fall darauf verlassen, dass sie dir eine großartige Beerdigung mit allen Schikanen organisieren wird.«
Einen Moment lang blickte Arjen sie streng an, obwohl seine Mundwinkel bereits verdächtig zuckten, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. So wunderbar das gemeinsame Lachen sich auch anfühlte, es täuschte nicht darüber hinweg, dass viel Ungesagtes zwischen ihnen stand und die Vertrautheit auf längst vergangenen Tagen beruhte. Regelmäßige Telefonate und Briefe vermochten den Anschein zu erwecken, am Alltag des anderen teilzuhaben, aber die entscheidenden Zwischentöne gingen auf diesem Weg verloren.
Warum bist du überrascht?, ging es Greta durch den Kopf. Genauso wenig wie Arjen weiß, wie dein Leben in Zürich unter der Oberfläche ausgesehen hat, so wenig weißt du über seins. Das Leben von Großvätern findet nicht bloß dann statt, wenn ein Enkelkind neben ihm sitzt. Aber genau so hast du ihn gesehen, als wärst du immer noch ein Kind, in dessen Wahrnehmung die Familienmitglieder ihre verschiedenen Rollen erfüllen – und nicht mehr.
Während ihr Großvater sich vorbeugte, um einen abgebrochenen Zweig vom Boden aufzuheben, fragte Greta sich plötzlich, was sie wirklich über Arjen Rosenboom wusste. Natürlich wusste sie, dass er in einem Fischerdorf an der ostfriesischen Küste geboren worden war und dass er nach seinem Medizinstudium in Heidelberg letztendlich nach Meresund in Schleswig-Holstein gezogen war. Greta kannte die Geschichte, wie Arjen seine Frau Elisabeth während einer Zugfahrt nach Süddeutschland kennengelernt und so bezaubert hatte, dass sie direkt beim Aussteigen ihrem am Bahnhof auf sie wartenden Verlobten seinen Ring zurückgegeben hatte. Sie wusste, dass Arjen als Landarzt sein halbes Leben lang auf Hausbesuchen zu den weit verstreut liegenden Höfen unterwegs gewesen war und deshalb die Geburt jedes seiner drei Kinder fast verpasst hatte. Greta erinnerte sich sogar an die Innigkeit zwischen ihren Großeltern, obwohl Elisabeth kurz nach ihrem fünften Geburtstag verstorben war. In ihren Kindheitserinnerungen berührten sich Arjen und Elisabeth mit einer selbstverständlichen Zärtlichkeit, wie es nur Menschen tun, die einander vertraut sind und die sich ungebrochen zum anderen hingezogen fühlen. Hätte jemand Greta nach Arjens Persönlichkeit befragt, wäre es ihr ein Leichtes gewesen, ihn mit wenigen Worten zu skizzieren: Er war ein waschechter Familienmensch, verantwortungsbewusst, humorvoll und mit einer Vorliebe für gutes Essen, auch wenn er das offenbar vergessen hatte, so schmal wie er geworden war. Außerdem mochte er die Menschen, und sie zahlten es ihm mit gleicher Münze zurück. Selbst als widerspenstig verschriene Käuze verwandelten sich in seiner Gegenwart in umgängliche Zeitgenossen. Ihr Großvater war ein alter Mann, der den Nationalsozialismus und die trostlose Nachkriegszeit erlebt hatte, der als Arzt unzähligen Schrecken und Abgründen begegnet war und der geliebte Menschen verloren hatte.
Aber ist das wirklich schon alles, was es über Arjen Rosenboom zu wissen gibt?
Plötzlich überkam Greta das Bedürfnis, mehr über ihren Großvater zu erfahren, als wäre er ein Geschenk, das ihr schon bald genommen werden würde und das sie bis zur Neige auskosten wollte. Als habe er Gretas Gedanken gelesen, lächelte Arjen sie aufmunternd an, und sie spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle. »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Es ist etwas außergewöhnlich – ich hoffe, du freust dich trotzdem darüber.«
Und da war sie: diese einzigartige Art, mit der Arjen sie betrachtete. Als wisse er jetzt schon, dass sie ihm genau das Richtige schenken würde, weil es zwischen ihnen eine
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