Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
zuckte mit der Schulter. »Das ist Adele Ennenhof, mehr Liebenswürdigkeit werden Sie von ihr nicht bekommen. Also nur zu, fassen Sie den Stier bei den Hörnern. Und keine falsche Zurückhaltung.«
Mit einem zweifelnden Lächeln trat Greta an den Tisch und ertappte sich dabei, dass sie stramm stand wie ein Zinnsoldat. »Guten Morgen.«
Anklagend deutete Adele auf die aufgewühlte See, deren Wellenbögen gegen die Bucht donnerten, dass man es bis ins Sturmwind hörte. »Ich habe gesagt, dass ein ordentlicher Sturm aufzieht. Nur glaubt mir ja leider niemand, obwohl ich schon mein ganzes Leben diesen elenden Tümpel vor Beekensiel beobachte.« Was Adele auch jetzt tat, sie weigerte sich nämlich beharrlich, Greta auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn ihr einen guten Morgen zu wünschen. Allerdings kümmerte Greta das im Moment wenig, sie hatte ganz andere Sorgen.
»Sie glauben also nicht, dass Mattes mit dem Unwetter zurechtkommt? Ich bin nämlich davon ausgegangen, dass er ein erfahrener Segler ist, der sein Boot und die Nordsee kennt. Da wird er doch wohl kein Risiko eingehen …«
Adele schnaufte. »Männer haben es leider nicht so sehr mit ihrem Verstand, sobald es um die Liebe geht. Mattes wäre gestern mit seinem morschen Kutter selbst dann hinausgefahren, wenn sich bereits eine Flutwelle am Horizont abgezeichnet hätte.«
»O nein.« Greta schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich habe mir, ehrlich gesagt, auch schon Gedanken gemacht – aber dann dachte ich, es liegt bloß daran, weil ich als Landei die Gefahren eines solchen Törns gar nicht richtig abschätzen kann.« Die Vorstellung, dass Mattes sich in solche Gefahr begab, bloß um Abstand zu bekommen, versetzte sie in Angst und Schrecken.
»Nun brechen Sie mal nicht gleich vor Verzweiflung zusammen«, wies Adele sie an. »Vermutlich bekommt der Junge das hin – und höchstwahrscheinlich sieht er in diesem Wetter eher eine Herausforderung als eine Gefahr. Trotzdem ist ein Unwetter um diese Jahreszeit unberechenbar, vor allem wenn man allein unterwegs ist. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber Sie wissen ja selbst, wie stur Mattes sein kann. Normalerweise mag ich das an ihm, aber in diesem Fall macht er mich einfach wütend. Um die Gefühle der Zurückgelassenen schert sich ja niemand, das war schon immer so. Was kümmert es meinen Enkel, wenn ich vor Angst fast sterbe, dass ich ihn auch noch verlieren könnte?«
Erst jetzt, da Adele ihren Blick endlich erwiderte, bemerkte Greta, dass das versteinerte Gesicht und der kühle Ton nur eine Maske waren. Die alte Dame hielt ihre Fasson genauso eisern aufrecht wie ihre Haltung, aber sie würde nicht mehr lange die Kraft dazu haben. Du hast schon genug Menschen in deinem Leben verloren , erkannte Greta. Für einen Moment sah sie in Adele die junge Frau, die nachts heimlich auf die Straße schlich, mit pochendem Herzen und einem unbewussten Lächeln auf den Lippen. Wie sie auf dem Weg war zu einem Rendezvous mit einem jungen Mann, der nichts hatte und dem sie trotzdem glaubte, dass er ihr die Welt schenken würde. Hatte Adele Ruben genauso geliebt wie er sie? Denn daran, dass Ruben sie geliebt hatte, bestand kein Zweifel, das war eindeutig aus Arjens Erzählung herauszuhören gewesen. Was war nur geschehen, dass letztendlich doch eine Ennenhof aus Adele geworden war?
»Sie wollten doch einen Blick auf die Fotos werfen«, wechselte Greta das Thema. »Die Aufnahmen, über die Mattes sich so aufgeregt hat, habe ich aussortiert. Nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Sie meinen die Fotos, auf denen mein Schwiegervater Rasmus bei einem seiner dreckigen Geschäfte zu sehen ist? Als ob die mich kümmern würden.« Adele steckte sich eine Zigarette an, während der Fotostapel unangetastet vor ihr auf dem Tisch liegen blieb.
Trude, die gerade mit dem Teeservice nahte, zog die Augenbrauen zusammen, bis eine steile Falte auf ihrer Stirn erschien. »Adele, also wirklich. In unserem Haus wird nicht geraucht, schon seit Jahren nicht mehr.«
»Darum hast du auch chronisch zu wenige Gäste, liebe Gertrud. In deinem Haus mangelt es an Gastfreundschaft, da helfen auch die herausgeputzten Zimmer nichts.«
Mit einem Klirren stellte Trude das Service ab. »Ihr schenkt euch den Tee dann bitte selber ein.« Ehe Greta eine stellvertretende Entschuldigung vorbringen konnte, rauschte sie ab, vermutlich um sich wortreich bei einem geneigten Zuhörer über Adele Ennenhofs Fisimatenten aufzuregen.
Auf Adeles Lippen
Weitere Kostenlose Bücher