Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
breitete sich ein hinterhältiges Lächeln aus. »Die einzige Taktik, mit der es gelingt, unsere geschwätzige Trude auf Abstand zu halten, ansonsten wäre sie ganz schnell mit bei uns am Tisch gesessen. Sie ist ein nettes altes Mädchen, aber im Augenblick könnte ich sie wirklich nicht ertragen.« Mit einem Seufzen schnipste sie ihre halb aufgerauchte Zigarette in den Kamin, dann nahm sie die Fotos in die Hand. Stück für Stück musterte Adele sie, bis sie schließlich an Rubens Bild hängen blieb. Sie betrachtete es so eingehend, als würde es unendlich viel mehr als einen frech grinsenden Jungen zeigen – und vermutlich tat es das auch: eine ehemalige, vor langer Zeit zerbrochene Liebe, unerfüllte Hoffnungen und Wünsche.
»Erkennt man den jungen Mann, der Ruben später war, in diesem Kindergesicht wieder?«, fragte Greta vorsichtig.
Adeles fast unsichtbare Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Wie bitte?«
»Mein Großvater war mit diesem Jungen befreundet und hat mir erzählt, dass der Junge später als junger Mann noch einmal auf Beekensiel gewesen ist. Ich habe angenommen, Sie würden ihn kennen.«
»Mattes hat mir von dieser Kinderfreundschaft erzählt, aber ich muss gestehen, dass ich mich als Mädchen wenig für die Burschen in der Nachbarschaft interessiert habe. Für mich gab es nur das Klavier und meine Amika, eine Weimaraner Hündin. Ruben habe ich erst im Sommer 1946 kennengelernt. Aber wie Sie schon vermutet haben, erkennt man ihn auf dem Foto durchaus wieder, obwohl das interessanteste Merkmal in seinem Gesicht von diesen hellen Flecken bedeckt wird. Ruben hatte so eine Nase … Schwierig zu beschreiben. Wenn es Sie allerdings interessiert, müssen Sie sich nur Mattes’ Nase anschauen, eine von vielen Eigenheiten, die er von seinem Großvater geerbt hat.«
Greta glaubte ein Geräusch zu hören, als ob in weiter Ferne zwei Kontinente aufeinanderstießen, um endlich eins zu sein. Unter Adeles prüfendem Blick konnte sie lediglich nicken.
»Sie haben es sich also bereits zusammengereimt«, stellte Adele fest. »Überrascht mich nicht, schließlich sind Sie ein kluges Mädchen. Mein Mattes hingegen hat wohl nicht einmal einen Verdacht geschöpft – und vielleicht ist es auch besser so, denn schließlich baut er sein Leben darauf auf, ein Ennenhof zu sein. Was immer das auch bedeuten mag. Ich hatte Glück, dass meine Tochter Rose bis auf Rubens Nase und sein blondes Haar ganz nach mir schlug, sodass niemand Verdacht schöpfte. Abgesehen von meinem Mann natürlich, der es genoss, sie spüren zu lassen, dass sie bestenfalls geduldet war. Es war der größte Fehler meines Lebens, Ole Ennenhof zu heiraten, aber damals glaubte ich, mir bliebe nichts anderes übrig. Ich hatte mich meinem Schicksal ergeben und nicht daran gedacht, was das für mein Kind bedeuten sollte …«
In diesem Moment, als Adeles Stimme versagte, sah sie zerbrechlicher aus als je zuvor. Behutsam berührte Greta mit den Fingerspitzen ihre Hand, die immer noch Rubens Fotografie hielt. Sie suchte nach Worten, um sie zu trösten, doch was konnte sie dazu schon sagen? Sie wusste zu wenig über Adeles Beweggründe und noch weniger über die Schwierigkeiten, die Rose unter Ole Ennenhof hatte ausstehen müssen und die sie letztendlich vertrieben hatten. Ihr wurde nur zunehmend klarer, dass sich hinter Adeles Distanz sehr viel Kummer und Selbstvorwürfe verbargen.
»Mattes hat mir erzählt, dass Ihr Großvater sehr eng mit Ruben befreundet war«, nahm Adele das Gespräch wieder auf, als sie sich einigermaßen gefasst hatte. »Bestimmt würde es Arjen freuen zu hören, dass Ruben ihn ebenfalls oft erwähnte, er war offenbar sehr stolz auf diese Freundschaft. Trotzdem habe ich mich stets von Ihrem Großvater ferngehalten, weil ich davon ausging, dass er nichts von mir wusste. Und so wie die Dinge damals standen, durfte ich kein Risiko eingehen, dass meine Liebesbeziehung zu Ruben bekannt wurde.«
»Es muss sehr hart für Sie gewesen sein, das alles allein mit sich auszumachen. Dabei wusste mein Großvater von Ihnen, er hat Sie nämlich zusammen mit Ruben gesehen.« Dass Arjen seinem besten Freund heimlich gefolgt war, behielt sie lieber für sich.
Adeles Lippen glitten vor Erstaunen auseinander, nur um sofort wieder geschlossen zu werden, allerdings nicht zu einer strengen Linie wie zuvor, nein, es blieb ein milderer Zug zurück. »Meinen Sie, es wäre möglich, dass ich mich mit Arjen einmal treffe, sobald es seine Gesundheit
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