Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
»Nö, kann ich nicht.« Demonstrativ verschränkte er die Arme vor der Brust.
Greta musste sich beherrschen, den jungen Mann nicht bei seinem Kragen zu packen und durchzuschütteln, damit er diese gleichgültige Haltung ablegte. »Hören Sie, ich sehe ja selbst, dass das Meer sehr unruhig ist, aber ich muss trotzdem hinüber. Ein Notfall, verstehen Sie doch.«
In der Miene des jungen Burschen regte sich zu Gretas Entsetzen nichts. Er starrte sie nur weiter an, als sei sie eine lästige Fliege, die sich nicht von selbst in Luft auflöste.
»Okay, soll ich die Schranke einfach mit dem Wagen durchbrechen? Dazu zwingen Sie mich nämlich, wenn …«
»Greta, bist du das?« Mathilde mit ihren hochgesteckten Zöpfen linste um die Ecke. »Das ist ja witzig, dass wir uns ausgerechnet hier wiedertreffen. Das ist übrigens Frank, mein kleiner Bruder und der Freund von Birte aus dem Sturmwind. Der schiebt heute Dienst, eine Art Zweitjob, bei dem man nur blöd rumsitzen muss, also genau das Richtige für ihn. Aber was ist denn los? Du bist ja ganz aufgelöst.«
Greta konnte ihr Glück kaum fassen: Wenn jemand sie verstand, dann Mathilde. Franks Protest überhörend, schob sie sich nach draußen, weil im Inneren des Häuschens nicht genug Platz für drei Personen herrschte.
»Mattes ist im Krankenhaus, nachdem er gestern mit seiner Jolle in Schwierigkeiten geraten ist und die Seenotwacht ihm zu Hilfe kommen musste. Mehr weiß ich nicht.«
Mehr brauchte es jedoch auch nicht, um Mathilde auf den Plan zu rufen. »Der Kerl war bei dem Wetter unterwegs? Auf solche Ideen kommt auch nur Herr Ennenhof.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Nun ja, aber leider hat Frank recht, die Verbindungsstraße steht schon so gut wie unter Wasser, der Sturm drückt die Flut rein, und dadurch verwandelt sich eine Fahrt über die Straße in eine einzige Schlitterpartie. Falls einem dabei nichts Schlimmeres passiert …«
»Das mag ja sein, aber ich muss trotzdem in die Nordener Klinik.« Greta betete, dass die junge Frau ihr die Entschlossenheit abnahm, obwohl ihre Hände schlagartig feucht wurden.
Mathilde musterte sie eindringlich. »Das musst du offenbar wirklich. Also gut, ich helfe dir.« Sie packte Greta bei der Hand und zog sie aus dem nach Yogi-Tee duftenden Häuschen und vorbei an dem mürrisch dreinblickenden Frank. »Mit diesem Auto geht das aber auf keinen Fall, das liegt viel zu flach am Boden. Dieses hübsche Ding wurde dafür gemacht, um damit im Sonnenschein über die Landstraße zu kutschieren, aber sicherlich nicht für unser ostfriesisches Schietwetter.«
»Ich habe aber nur das Coupé«, gestand Greta kleinlaut. Wenn sie sich nicht umgehend zusammenriss, würde sie sich in Mathildes Arme werfen und sich trösten lassen. Sie musste los, ehe sie der Mut verließ.
Nachdenklich rieb Mathilde ihr Kinn am Kragen ihres Norwegerpullis, dann schnalzte sie mit der Zunge. »Dann nimm doch einfach Mattes’ Jeep, der ist wie gemacht für eine solche Herausforderung.«
»Das Monsterauto?« Neben der Vorstellung, in einen solchen Wagen zu steigen, verblasste die Furcht vor der überschwemmten Straße.
»Glaub mir, der Jeep packt das.« Mathilde nickte, als sei das eine bewiesene Tatsache. »Der steht ganz bestimmt in der Garage, und der Schlüssel steckt ohnehin im Schloss, das tun sie bei fast allen Wagen hier auf der Insel. Und was die Schranke betrifft … Frank kann ja mal ein paar Fischbrötchen am Marktplatz kaufen gehen, und ich halte so lange die Stellung.« Mathildes Bruder sah aus, als hielte er das Ganze für eine ausgemachte Schnapsidee, aber allem Anschein nach wäre es noch eine größere Schnapsidee gewesen, seiner Schwester zu widersprechen. Herausfordernd funkelte Mathilde Greta an. »Traust du dir die Sache mit dem Jeep zu oder musst du jetzt nicht mehr ganz so dringend zu Mattes?«
»Doch, muss ich«, sagte Greta bestimmt.
Eine halbe Stunde später stand Greta mit Mattes’ Jeep vor der Schranke, die Hände so fest um das Lenkrad gelegt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Als sie das Garagentor neben Mattes’ Wohnhaus aufgezogen hatte, hatte sie insgeheim gehofft, dass der Schlüssel nicht im Zündschloss steckte oder ein Nachbar sich ihr in den Weg stellen würde mit der Frage »Was haben Sie denn hier zu suchen?«. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht, und somit blieb ihr nichts anderes übrig, als den inneren Schweinehund zu überwinden. Es stellte sich heraus, dass es noch viel schrecklicher war,
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