Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Vielleicht ist es ja die Macht des Walfischknochens.« Obwohl er diese Vermutung mit einem Schmunzeln aussprach, wirkte er keineswegs so, als mache er nur einen Scherz.
»Dieser geheimnisvolle Walfischknochen … Wo ist der eigentlich abgeblieben?« Mattes’ kräftige Stimme hallte nach Arjens leisen Worten regelrecht von den getäfelten Wänden wider.
Arjen hob ratlos die Hände. »Das weiß ich nicht. Als ich Ruben das letzte Mal gesehen habe, hatte er ihn nicht bei sich. Eine meiner größten Hoffnungen, als ich nach Beekensiel zurückgekehrt bin, bestand darin, den Walfischknochen wiederzufinden. Ruben hat ihn versteckt, aber ich weiß nicht wo. Ich weiß nur, dass es das letzte und einzige Erinnerungsstück ist, das von meinem Freund geblieben ist, nachdem seine Kate am Nordstrand abgebrannt war. Für mich ist der Walfischknochen wie ein Schlüssel, mit dem die Erinnerung aufersteht, aber mit dem man die Tür zur Vergangenheit auch wieder verschließen und zu einem Abschluss bringen kann – genau das, was ich mir wünsche. Ich habe ihn gefragt, warum er den Walfischknochen nicht um den Hals trage, aber Ruben hat bloß gesagt, er befinde sich dort, wo sein Schicksal besiegelt worden sei.«
»Der Kommentar passt zu Ruben«, sagte Adele mit einem Lächeln in der Stimme. Dann langte sie mit einer eleganten Geste in den Ausschnitt ihres Kleides und holte eine silberne Kette hervor, in die der Walfischknochen eingearbeitet war.
Greta schlug sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu ersticken, während Arjen aussah, als würde er nur allzu gern aufschreien, wenn er nur könnte. Ihr Großvater grub seine Finger in die Sessellehnen und starrte auf das vergilbte Stück Knochen, dessen Schnitzereien kaum noch sichtbar waren. Das war er: der Schlüssel zu Rubens Schicksal.
»Ich habe ihn all die Jahre am Herzen getragen, dort, wo er hingehörte. Für mich war er ein Kleinod und der Beweis dafür, dass Ruben mich wahrhaftig geliebt hat, obwohl er mich – aus welchen Gründen auch immer – verlassen hat. Bis Arjen mir erzählte, dass es sich um einen Walfischknochen handelt, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was Ruben mir da eigentlich geschenkt hatte. Er sagte, es handle sich um ein Erbstück seines Vaters und damit würde ich sein Leben in den Händen halten. Ich habe ihm geglaubt, aber ich habe ihm ja ohnehin alles geglaubt, all die Geschichten über unsere gemeinsame Zukunft, die er gesponnen hat, seine Ideen, was wir alles tun würden. Selbst als er nicht länger auf Beekensiel gewesen ist und mein Vater mich zur Heirat mit Ole Ennenhof gedrängt hat, habe ich immer an ihn geglaubt. Sonst wäre ich vermutlich vor Kummer zerbrochen.«
»Du hast daran geglaubt, weil Ruben die Wahrheit gesagt hat«, erwiderte Arjen bestimmt. Als Adele ihm daraufhin den Walfischknochen hinhielt, zögerte er, auch nur die Hand nach ihm auszustrecken.
»Arjen Rosenboom, nun hör aber auf«, schimpfte Adele. »Nimm den Walfischknochen endlich, schließlich habe ich ihn eine halbe Ewigkeit bei mir getragen – und Ruben war uns beiden wichtig.«
»Ruben …«, flüsterte Arjen. »Daran, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, wollte ich eigentlich niemals wieder denken, weil es zu sehr schmerzt. Die Leere, die zurückgeblieben ist … Im Laufe der Zeit konnte ich sie notdürftig abdecken, wie einen Graben im Boden, für dessen Bedeckung einem nur Gaze zur Verfügung steht: Sie reißt immer wieder ein, und man starrt auf diese Stelle und sieht, dass jetzt Dunkelheit herrscht, wo einst Licht gewesen ist. Wie es ist, etwas geradezu Lebenswichtiges verloren zu haben, weiß man erst, wenn es passiert. Die Wunde, die einem dabei geschlagen wird, verheilt niemals, man kann nur versuchen, sie zu vergessen. Oder man entscheidet sich dazu, sich zu erinnern – und erträgt den Schmerz, den man dabei empfindet …«
34
SOMMER 1946
Die Nacht war viel zu kurz und von Sorgen zermartert gewesen. Thaisen ging es seit seinem Schwächeanfall zusehends schlechter, sodass sich Arjen bei Sonnenaufgang ein Herz fasste und mit dem Fahrrad ins Dorf raste, um vom Bürgeramt aus den Arzt, einen Herrn Dr. Böhmer, anzurufen. Dr. Böhmer versprach, so schnell wie möglich nach Beekensiel zu kommen und vertröstete Arjen damit, dass es gewiss nur die Hitze sei, die seinem Vater zusetzte. Kühle Wickel und Ruhe, mehr würde es gewiss nicht brauchen, um den alten Burschen wieder auf die Beine zu bekommen. Arjen musste energisch werden, damit der Mann
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