Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
wanderte Anettes prüfender Blick über ihr Äußeres.
»Warum bist du denn allein in der Küche?« Weit würde Greta mit diesem Ablenkungsmanöver nicht kommen, aber sie war für jede Sekunde Aufschub dankbar.
»Ach, dieses Tamtam … Dabei sind meine Nerven eh schon zum Zerreißen angespannt.« Anette hielt inne, als würde die Belastung ihr die Worte rauben. Einen verstörenden Moment lang befürchtete Greta, ihre Mutter wisse bereits wegen der Trennung Bescheid, aber dann deutete Anette auf den Kalender. »Vorgestern hatte Arjen seine Nachuntersuchung wegen der Knochenmarkgeschichte. Diese Unwissenheit und die ständige Angst setzen mir zu, obwohl er ja immerzu behauptet, vollständig genesen zu sein. Als wäre Krebs eine Erkältung, die man nur gründlich auskurieren muss.«
Die halbjährliche Nachuntersuchung hatte Greta vor lauter eigenen Sorgen ganz vergessen gehabt. »Und, was sagen die Ergebnisse?«
Anette zuckte mit den Achseln. »Laut Arjen ist alles bestens. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, er sieht so ausgelaugt aus in der letzten Zeit und hält deutlich mehr Nickerchen in seinem Lesesessel als sonst. Nicht einmal die Tageszeitung weckt sein Interesse, die blättert er lediglich durch. Vermutlich werde ich mich daran gewöhnen müssen, dass ihn sein Alter nun doch einholt.« Unvermittelt hoben sich Anettes Mundwinkel zu einem Lächeln. »Außerdem gibt es noch einen triftigen Grund, sich in der Küche zu verstecken: Wilke Anders von nebenan schenkt gerade seinen selbstgemachten Kirschlikör aus. Sieht ganz so aus, als wäre ich die Einzige, die nach dem Desaster im letzten Jahr nicht vergessen hat, dass dieses Zeug das reinste Abführmittel ist.«
Mit einem Grinsen füllte Greta ihr Sektglas nach. »Ich erinnere mich, Wencke hat mir die Folgen des Geburtstagslikörchens am Telefon lebhaft geschildert. Ich würde ohnehin nur unter Zwang etwas zu mir nehmen, das der alte Wilke gebraut hat. Mit seinen dicken Brillengläsern konnte er Wencke und mich schon nicht mehr auseinanderhalten, als sie noch ein pummeliger Teenager war und ich eine Grundschülerin mit raspelkurzen Haaren, die von allen für einen Jungen gehalten wurde.«
»Manche Dinge ändern sich eben nie.« Anette nippte an ihrem Glas. »Scheint ja auch der Fall bei deinen Haaren zu sein … Hast du wieder angefangen, sie dir selber mit der Papierschere zu schneiden, so wie damals, als du lediglich ein wenig Knete aus deinem Zopf schneiden wolltest und das Rumgeschnippel in einem Igelschnitt endete? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, reichten deine Haare noch über die Schultern, was schick und ausgesprochen weiblich aussah.«
Schuldbewusst packte Greta in ihren Schopf, der im Nacken in unregelmäßigen Stufen endete. Einen besseren Schnitt hatte sie nach ihrem Wutanfall, bei dem ihr langes Haar hatte dran glauben müssen, nicht hinbekommen.
Anettes Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was ist eigentlich mit deiner Stirn passiert?«
Da war sie auch schon, eine der Fragen, mit denen Greta fest gerechnet und für die sie es dennoch verpasst hatte, sich eine Ausrede zurechtzulegen. »Diese Schramme … Also das war ein Bilderrahmen. So einer von diesen kleinen Dingern, in die wir Zeichnungen aus unserem Toskanaurlaub getan hatten. Ganz schön scharfe Kanten.«
»Ein Bilderrahmen? Was hatte der denn an deiner Stirn zu suchen?« Anette nahm jetzt einen großen Schluck Sekt, sie war offenbar etwas überfordert. »Nun lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Erzähl’ endlich, was um Himmels willen passiert ist.«
»Wenn du es genau wissen möchtest: Der Rahmen ist von der Wand abgeprallt und mir ins Gesicht geflogen.«
»Du meinst: Er ist abgefallen.«
»Nein, abgeprallt. Nachdem ich ihn gegen die Wand geworfen hatte.«
»Warum solltest du denn so etwas tun?«
»Ehrlich gesagt, war das nicht meine Absicht. Also, das Werfen schon, aber ich wollte nicht die Wand, sondern Erik treffen. Dabei habe ich offenbar ein Stück zu hoch gezielt. Diese Rahmen machen es einem aber auch nicht leicht, sie sind ziemlich unhandlich beim Werfen.«
Anette starrte sie mit offenem Mund an, und Greta widerstand nur knapp dem Verlangen, ihr kurzerhand eine Gabel voll Kuchen hineinzuschieben. Irrsinnigerweise war ihr zum Lachen zumute, und von der Erschöpfung, die sie während der Fahrt beinahe gelähmt hatte, war nichts mehr vorhanden. Die Ausmaße ihrer Auseinandersetzung mit Erik wurden ihr erst jetzt richtig bewusst: ihr
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