Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
im Mai 1945 das Ende da war, verschlief Arjen es in seinem Elternhaus auf Beekensiel, ein ausgezehrter Junge, der darauf hoffte, dass der Frühling nicht nur für sein Land, sondern auch für ihn einen Neuanfang brachte.
Doch stattdessen hatte Beekensiel ein noch härteres Jahr bevorgestanden. Denn die Insel hatte sich von den Bombardements, die den Hafen und einige Wohn- und Lagerhäuser beschädigt hatten, noch nicht einmal ansatzweise erholt, als die Flüchtlingswelle über sie schwappte. Ihr folgte die britische Besatzung samt ihrer Unterstützung durch die polnische Armee, die Platz und Nahrung für sich in Anspruch nahm – beides Dinge, um die es knapp bestellt war. Als Arjen es im Herbst zum ersten Mal wieder zu Fuß in den Ort schaffte, erkannte er ihn kaum wieder: Die einst stolze Hafenanlage sah aus, als habe ein Riesenkind mit seinen Fäusten auf sie eingedroschen. Wo der prächtige Gasthof Friesenhus und das Rathaus mit seiner strahlend weißen Fassade gestanden hatten, war nur ein Schutthaufen geblieben, und auch die alten Kastanien im Bürgerpark waren abgebrannt. Dabei waren die Schäden, die Beekensiel hatte hinnehmen müssen, im Vergleich zu den anderen Ostfriesischen Inseln noch gering ausgefallen. Die größeren Nachbarinseln waren für die Marine besser zugänglich gewesen und deshalb später auch in den Fokus der feindlichen Bomber geraten. Wieder einmal hatte sich die selbsterwählte Außenseiterrolle von Beekensiel ausgezahlt. Trotzdem blickte Arjen in jenen Tagen in viele mutlose, verstörte und trauernde Gesichter, sodass er beschloss, seine müden Glieder zu vergessen und seinen Vater in seiner Arbeit als Geistlicher zu unterstützen, soweit es ihm möglich war – und Thaisen ihn ließ. Als der Winter dann mit gnadenloser Härte über die Insel einbrach und die letzten Kraftreserven hinwegzufegen drohte, war sich sogar Thaisen Rosenboom nicht mehr vollends sicher, ob Fleiß und Vertrauen auf Gott ausreichten, um zu überleben. Erst jetzt im Sommer keimte endlich die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch so etwas wie eine Zukunft gab. Die britische Besatzung wollte sich bis Ende des Jahres zurückziehen, und am 1. September sollte sogar wieder ein Bürgermeister gewählt werden.
Als Arjen an jenem Sonntagvormittag die Kirche verließ, war diese Stimmung greifbarer als je zuvor. Die warme und freundliche Sonne lockte und gab ihm für einige Augenblicke die Zuversicht, dass das überall gegenwärtige Chaos schon bald überwunden sein und es eine Zukunft für ihn geben würde. Diesen Moment wollte er für sich allein haben, und genau deshalb musste er sich beeilen und die Gemeinde hinter sich lassen. Denn einige der Besucher waren nur seinetwegen da, als Dankeschön für seine Unterstützung – unabhängig davon, dass ihm eine solche Aufmerksamkeit unangenehm war. Alles, was er hatte, waren Worte, und im Gegensatz zu seinem Vater reichte ihm das nicht.
Gerade als er abwog, den Umweg über die Dünen, wo die ersten Heckenrosen blühten, zu wagen, hatte er die hochgewachsene Gestalt am zertrümmerten Kai bemerkt. Fast wäre Arjens Blick weitergeglitten, aber dann bückte der Unbekannte sich, um einen Stein aufzuheben und ihn ins Wasser zu werfen. Es war diese geschmeidige Bewegung, die Arjens Aufmerksamkeit einfing, die Leichtigkeit, die ihr innewohnte. Er blieb stehen und schaute auf die fremde und gleichwohl vertraute Gestalt.
Konnte es wirklich sein?
Eher er sich selbst eine Antwort darauf gab, drehte der Fremde sich um.
»Ruben!« Arjen wollte den Namen herausschreien, bekam jedoch nicht mehr als ein Flüstern zustande.
Dort am Kai stand wahrhaftig Ruben, auch wenn es nicht länger der kindliche Ruben seiner Erinnerung war. Nein, dort stand ein junger Mann, ungeachtet der Tatsache, dass er nach wie vor einen halben Kopf kleiner war als Arjen, der mittlerweile sogar Thaisen überragte. Rubens Haar schimmerte eine Spur dunkler im Sommerlicht, seine Gesichtszüge wirkten kantig, genau wie seine Glieder, und doch ging von ihm immer noch jener Zauber aus, der Arjen vom ersten Tag an gefesselt hatte. Einen Moment lang glaubte er sogar das Blau in Rubens Augen aufleuchten zu sehen, die jedoch nicht in seine Richtung blickten, sondern über den Vorhof der Kirche wanderten, als suchten sie jemanden Bestimmtes im Gewimmel der herausströmenden Gottesdienstbesucher. Seit dem Kriegsende war die alte Kirche so gut besucht, dass einige Gäste keinen Platz auf den Bänken fanden und stehen bleiben
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