Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Medikamenten vollstopfen zu lassen, die das Unvermeidliche für eine kurze Spanne hinauszögern.«
Bevor Greta auch nur eine der tausend Fragen stellen konnte, die ihr auf der Zunge lagen, brach Anette in Tränen aus. Es war jenes haltlose Weinen, das durch Mark und Bein ging. Behutsam tätschelte Arjen ihre Hand, aber das machte es nur schlimmer. Eine Weile versuchte er seine Schwiegertochter noch mit Zuflüstern zu beruhigen, doch je mehr er sich bemühte, desto mehr verlor sich Anette in ihrer Trauer. Sie wirkte, als stünde sie bereits an seinem Grab. Schließlich gab er auf und wandte sich Greta zu, die selbst verzweifelt gegen ihre Tränen ankämpfte.
»Sieh bitte zu, dass du umgehend Thomas Roder findest. Ich glaube, niemand ist jetzt besser imstande, sich um Anette zu kümmern, als er.«
»Nein, ich möchte nicht nach irgendwem suchen, ich möchte …« Gretas Stimme versagte.
Arjen bedachte sie mit einem solch strengen Blick, wie sie ihn nie zuvor bei ihm erlebt hatte. Schlagartig schwand das diffuse Gefühl, das sich mit seiner Offenbarung hinter ihrer Stirn ausgebreitet hatte. »Bitte tu, was ich dir gesagt habe. Anette muss die Nachricht erst einmal verkraften, und ich … Ich muss dir etwas erzählen, was viel wichtiger ist als meine Diagnose, an der ich sowieso nichts ändern kann.«
Am liebsten hätte Greta geschrien, dass er nicht solche Sachen sagen durfte, dass er ihnen nicht so wehtun durfte. Aber sie tat es nicht. Ihr Großvater hatte sie um ihre Hilfe gebeten, also drehte sie sich um und fand ihren Weg zu Thomas Roder, der gerade die Koffer in zwei nebeneinanderliegende Zimmer brachte. Der Mann begriff schnell, was Greta ihm abgehackt erzählte, und eilte dann zu Arjens Krankenbett, wo Anette ihrem Schwiegervater zwischen tiefen Schluchzern versicherte, sie würde alles Erdenkliche tun, wenn er sich bloß einer Therapie unterzog, anstatt kampflos aufzugeben. Arjens Erklärung, dass auch Dr. Brunner die Meinung vertreten hatte, dass eine Therapie qualvoll sei und das Ende vermutlich nur um wenige Wochen hinausschieben würde, prallte an ihr ab. Ohnehin schien sie allein Arjens Anblick in die Verzweiflung zu stürzen.
»Es ist sicherlich das Beste, wenn Anette sich für einen Augenblick zurückzieht, um diese Nachricht zu verkraften«, schlug Thomas Roder behutsam vor. »Und Sie beide machen ebenfalls den Eindruck, als bräuchten Sie einen ruhigen Moment.«
Als Arjen nickte, legte Thomas Roder den Arm um Anettes Schultern und zog sie an sich. Zu Gretas Überraschung gelang es ihm tatsächlich, Anette zum Gehen zu bewegen, während er auf ihre ständige Forderung, Arjen müsse ihr versprechen, sich in Therapie zu begeben, mit einem beruhigenden Brummen reagierte. Als endlich die Tür hinter ihnen zuging, meinte Greta, es habe tatsächlich den Anschein gehabt, dass ihre Mutter dankbar war, aus der Situation herausgenommen zu werden. Der Schock war schlicht zu groß gewesen. Und auch sie spürte, wie erschüttert sie war. Mit steifen Bewegungen zog sie den Sessel neben das Bett und sank hinein, erschöpft, als hätte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen.
»Großvater …«, wisperte sie und kämpfte gegen das wieder aufwallende Bedürfnis zu weinen an. »Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.«
»Sieh es als Geschenk – genau wie ich. Nur wenige Menschen wissen, dass sie bald sterben werden, und haben damit die Chance, Dinge in Ordnung zu bringen und ein friedliches Ende zu finden. Ich bin sehr froh darüber, dass sie mir gewährt wird, denn ohne den Zeitdruck hätte ich die Rückkehr nach Beekensiel vermutlich immer weiter vor mir hergeschoben. Du musst nämlich wissen, dass ich meinen Alltag unter Anettes Fuchtel ganz gemütlich fand. Die Diagnose hat meinen Blick darauf verändert. Noch vor drei Jahren, als mir Knochenmarkkrebs diagnostiziert wurde, konnte ich an Ruben nicht einmal denken. In diesen drei Jahren hat sich etwas in mir verändert, und als du mir an meinem Geburtstag auch noch ›gemeinsame Zeit‹ geschenkt hast, wusste ich, was ich zu tun hatte. Alles hatte sich von selbst gefügt – es war der perfekte Zeitpunkt, um endlich nach Beekensiel zurückzukehren. Und meine Eingebung hat sich als richtig erwiesen, nicht wahr?«
»Das stimmt«, gestand Greta ein. »Jetzt stehen aber erst einmal andere Dinge im Vordergrund. Wir müssen alles über deine Krankheit erfahren und die Möglichkeiten durchdenken. Es gibt gewiss eine Therapie, die dir mehr als nur ein paar
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