Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Anette. Das ist ja eine Überraschung.«
Für einen Moment war Greta nach Schmunzeln zu mute, wenn sie sich vorstellte, wie ihre Mutter und sie im Halbdunkel flüsternd ihre Kräfte miteinander maßen, um ja nicht den Gegenstand ihrer Diskussion zu stören. König Arjen, den Herrscher über den Rosenboom-Clan, selbst wenn er schnarchend daniederlag. Aber als sie das von Falten übersäte Gesicht und vor allem die müden Augen ihres Großvaters sah, verging ihr das Lachen.
Nach einem Zögern trat Anette neben das Bett und nahm Arjens Hand. »Es tut mir leid, dass ich ohne Anmeldung in dein Zimmer platze. Das ist ja sonst so gar nicht meine Art. Ich war bloß furchtbar aufgebracht, nachdem Greta mir von deiner Erkältung erzählt hat.«
»Du bist in deinem Zustand doch hoffentlich nicht mit dem Auto gefahren?« Arjen blinzelte Greta zu. »Wusstest du, dass deine Mutter eine noch schrecklichere Autofahrerin ist als du?«
Greta schüttelte den Kopf. Rückblickend kannte sie Anette tatsächlich nur auf dem Fahrrad, mit dem man in Meresund alles problemlos erreichen konnte. »Hat sie mir gegenüber interessanterweise nie erwähnt, nicht einmal nachdem ich durch die Führerscheinprüfung gefallen bin.«
»Das ist doch alles nebensächlich«, fiel Anette erregt ein. »Thomas hat mich gebracht, deshalb sind wir auch so spät dran, schließlich musste er noch die Sonntagspredigt halten. Nachdem wir in diesem Gasthof eingetroffen sind, bin ich schon einmal vorgegangen, während er damit beschäftigt ist, diese aufdringliche Wirtin abzulenken. Die wollte mich nämlich nicht ohne Vorankündigung zu Arjen aufs Zimmer lassen, gerade so, als wäre ich eine Fremde. Aber auch das ist egal. Nachdem Greta mir deine Erkältung gebeichtet hatte, habe ich bei Dr. Brunner angerufen und mich wegen deiner Nachuntersuchung erkundigt. Und bevor du dich aufregst: Dr. Brunner hat sich geweigert, mir irgendwas über deinen Gesundheitszustand zu erzählen. Er sagte lediglich: ›Wenn Ihr Schwiegervater Ihnen erzählt hat, es läge kein Befund vor, dann würde ich Ihnen raten, noch einmal in Ruhe mit ihm darüber zu sprechen.‹ Arjen, das sagt der Mann doch nicht ohne Grund!«
»Nein, das tut er nicht«, bestätigte Arjen erstickt. Sein Blick suchte erneut den seiner Enkelin, erwischte ihn jedoch nicht.
Greta glaubte hintenüberzustürzen und zu fallen, immer weiter zu fallen, während ihr Verstand mühsam zu begreifen versuchte, was soeben zwischen den Zeilen angedeutet worden war. Sie wollte ebenfalls zu ihrem Großvater ans Bett treten, damit er nicht lauter als nötig sprechen musste, stand auch auf, aber es gelang ihr nicht, sich weiter zu rühren. Gleich würde sich ihre Reise verändern, das spürte sie beinahe körperlich, wie ein eisiger Regen grub sich die Vermutung in ihre Haut, machte ihre Wangen und Lippen taub.
Arjens Augen schlossen sich für einen Moment, und als er sie wieder öffnete, waren sie von dem strahlenden Blau, das Greta so liebte. »Es tut mir leid, euch beiden solchen Kummer zu bereiten. Und nicht nur euch, sondern der ganzen Familie, auch wenn ich überzeugt davon bin, dass der Mensch es sich selbst schuldig ist, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Nach der Philosophie habe ich jedenfalls einen Großteil meines Lebens gehandelt. Und ich habe mich auch daran gehalten, als mir Dr. Brunner kurz vor meinem Geburtstag die Ergebnisse der Nachuntersuchung bekanntgegeben hat. Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht war, schließlich ist das Risiko nach einem Knochenkrebs recht hoch, an Leukämie zu erkranken.«
Kaum war das entscheidende Wort gefallen, schluchzte Anette auf. »Ich habe es geahnt, die ganze Zeit über habe ich es geahnt, dass etwas nicht stimmt.«
»Leukämie.« Ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt war, fand sich Greta neben dem Bett wieder. Die Erschöpfung, unter der ihr früher sonst stets energiegeladener Großvater gelitten hatte, der immer häufiger wegbleibende Appetit, die Blässe – all das hatte sie wahrgenommen und als Alterserscheinung abgetan. »Wie schlimm ist es?«
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Arjens Gesicht. »Nun, die Heimsuchung nennt sich ›akute myeloische Leukämie‹. Um es geradeheraus zu sagen: Die Therapiechancen sehen in meinem hohen Alter schlecht aus. Sehr schlecht sogar. Darum habe ich mich entschlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und die Handvoll Monate, die mir noch bleiben, zu nutzen, anstatt mich in einem Krankenhaus mit
Weitere Kostenlose Bücher