Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Wochen schenkt, wir müssen bloß …«
»Nein«, sagte Arjen sanft und bestimmt zugleich. »Ich werde sterben, Greta. Schon bald. Niemand kann daran etwas ändern, es ist der natürliche Lauf der Dinge, und ich habe mich damit abgefunden. Du weißt, dass ich ein glückliches und zutiefst befriedigendes Leben geführt habe. Aber um in Frieden gehen zu können, muss ich den Bogen, der in meinem Sommer mit Ruben seinen Anfang genommen hat, zu Ende spannen. Dazu brauche ich deine Hilfe, auch wenn es zweifellos sehr viel ist, was ich von dir verlange. Vermutlich bist du traurig und auch ein wenig wütend auf mich, weil ich euch die Wahrheit über meinen Zustand verschwiegen habe. Ich befürchte jedoch, anders wäre es nicht gegangen. Und nun muss ich dich bitten, mir zuzuhören. Es ist wichtig, dass ich dir von Rubens Rückkehr erzähle.«
»So gern ich es auch möchte, ich glaube nicht, dass ich mich jetzt darauf einlassen kann.«
Arjen nickte. »Es ist sicher schwer für dich, und ich fühle mich auch scheußlich, weil ich dich trotzdem darum bitte. Ich befürchte nur, wenn ich jetzt nicht die Gelegenheit habe, dir zu erklären, warum ich mich meiner Vergangenheit stellen muss, wird es mir gar nicht mehr gelingen. Dann wird Anette die Zügel übernehmen, und mein Schicksal wird sich nicht erfüllen.«
Die Worte trafen ins Schwarze.
Arjen hat recht , fuhr es Greta durch den Kopf. Im Angesicht des Todes darf man nicht zögern. Die Trauer kann warten, bis es wirklich einen Grund für sie gibt, wenn dieses Leben tatsächlich abgeschlossen ist. So, wie er es sich wünscht.
Sie schenkte ihrem Großvater ein Glas Wasser ein, dann lehnte sie sich zurück. »Erzähl mir von Rubens Rückkehr nach Beekensiel.«
21
BEEKENSIEL, SOMMER 1946
Die Gestalt zeichnete sich scharf gegen das klare Licht des Vormittags ab, wie sie mit den Händen in den Taschen am Kai stand und aufs Meer hinausblickte. Sie war hochgewachsen, mit breiten Schultern, obwohl sie nichtsdestotrotz eine Spur zu hager war.
Eigentlich hätte Arjen den jungen Mann nicht weiter beachtet, als er den Sonntagsgottesdienst verließ und einige Schritte im Hafen spazieren wollte – oder entlang der Reste, die der Krieg davon übriggelassen hatte. Am Abend vorher hatte er sein Buch, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, zeitig beiseitegelegt, und trotzdem fühlte er sich übernächtigt. Während Thaisen von der Kanzel aus seine Predigt geschmettert hatte, war er damit beschäftigt gewesen, seine Hände unter Kontrolle zu halten, die unentwegt über seine müden Lider fahren wollten. Auch die unterdrückte Gähnerei machte ihm zu schaffen – so wie sein Leben insgesamt.
Von einem achtzehnjährigen Mann sollte man eigentlich erwarten dürfen, dass er vor Lebenslust nur so sprühte, anstatt mit hängenden Schultern auf der Kirchbank zu kauern und darauf zu hoffen, dass die noch verbleibende Sonntagspredigt wie von Zauberhand vorbeiging. Sein Vater verlangte – weiß Gott – nicht viel von ihm, nur diesen einen Kirchenbesuch und den Bibelkreis mit den Kriegsflüchtlingen und ehemaligen Zwangsarbeitern, die sich noch auf Beekensiel aufhielten. Letzteres lag Arjen tatsächlich am Herzen, er fand sowieso, dass sein Vater sich erschreckend wenig für diese Menschen einsetzte, die alles verloren und oft Grausames erlebt hatten. Doch Thaisen vertrat unbeirrlich die Haltung, dass Gott demjenigen half, der sich selbst zu helfen wusste. Damit zeigt er immerhin mehr Nächstenliebe als die meisten Insulaner, die in den Flüchtlingen lediglich Arbeitskräfte sahen, die die erlittenen Verluste der Einheimischen ausglichen und den Rest zum Teufel wünschten. Gerade von den jungen Beekensielern, die mit Begeisterung in den Krieg gezogen waren, waren nur wenige zurückgekehrt. Und diejenigen, die bisher den Weg aus Krankenlagern oder aus der Gefangenschaft heimgefunden hatten, konnten oftmals ihre alte Arbeit nicht wieder aufnehmen, wegen sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen. Im Vergleich zu den meisten Kriegsteilnehmern von Beekensiel war Arjen noch glimpflich davongekommen: Im Herbst 1943 war er als Flakhelfer der Marine eingezogen und auf Norderney stationiert worden, wo er sich gegen Ende des Winters eine so schwere Lungenentzündung zugezogen hatte, dass er an die folgenden Monate im Lazarett kaum eine Erinnerung besaß. Von der Endphase des Krieges hatte er nur das Geschrei der Verwundeten und die zunehmende Verzweiflung des Pflegepersonals um sich herum mitbekommen. Als
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