Das Geheimnis des weißen Bandes
kurz in den Salon hier. Alles schien unberührt. Dann bin ich aus irgendeinem Grund zum Arbeitszimmer gegangen.«
»Sie haben kein Licht mitgeführt?«
»Nein. Der Mond war ja hell genug. Ich machte die Tür auf und sah einen Mann auf dem Fensterbrett, der etwas in seiner Hand hielt. Er sah mich, und wir erstarrten beide. Wir standen uns über den Teppich hinweg gegenüber. Zuerst habe ich gar nicht geschrien. Dazu war ich viel zu erschrocken. Dann schien er rücklings aus dem Fenster ins Gras zu fallen, und in diesem Augenblick war der Bann gebrochen. Ich fing an zu schreien und alarmierte damit das ganze Haus.«
»Wir werden uns den Safe und das Arbeitszimmer gleich ansehen«, sagte Holmes. »Aber bevor wir das tun, habe ich noch eine andere Frage. Sind Sie eigentlich schon lange verheiratet? Ich habe das Gefühl, dass Sie einen amerikanischen Akzent haben, Mrs. Carstairs?«
»Edmund und ich sind jetzt seit mehr als einem Jahr verheiratet.«
»Ich hätte Ihnen vielleicht erklären sollen, wie ich Catherine kennengelernt habe«, sagte Carstairs. »Denn es hat sehr viel mit der Geschichte zu tun, die ich Ihnen gestern erzählt habe. Ich dachte nur, es wäre nicht relevant, deshalb habe ich darauf verzichtet, es zu erwähnen.«
»Alles hat seine Bedeutung«, erklärte Holmes. »Ich habe oft festgestellt, dass die scheinbar unwesentlichsten Aspekte eines Falls am Ende oft die bedeutsamsten sind.«
»Wir haben uns auf der Catalonia kennengelernt«, sagte Catherine Carstairs, »am selben Tag, als sie aus Boston auslief.« Sie streckte die Hand aus und ergriff die ihres Mannes. »Ich reiste allein, abgesehen von einem jungen Mädchen, das meine Gesellschafterin war. Ich sah Edmund an Bord kommen und wusste gleich, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren war. Das konnte man an seinem Gesicht und der Furcht in seinen Augen ablesen. Wir gingen noch am selben Abend auf dem Oberdeck aneinander vorbei. Beide waren wir unverheiratet und allein. Und durch einen wahren Glücksfall fanden wir uns beim Abendessen nebeneinandersitzend am Tisch wieder.«
»Ich weiß nicht, wie ich die Reise ohne Catherine überstanden hätte«, setzte Carstairs den Bericht fort. »Ich war schon immer eine ängstliche Natur, und der Verlust der Bilder, der Tod von Stillman und all die schreckliche Gewalt … es war einfach zu viel für mich. Ich war richtig krank, in einer fieberhaften Erregung. Aber Catherine hat sich von Anfang an um mich gekümmert, und ich spürte, wie meine Gefühle für sie immerstärker wurden, je weiter wir uns von der amerikanischen Küste entfernten. Ich muss dazu sagen, dass ich über die sogenannte Liebe auf den ersten Blick stets gespottet habe, Mr. Holmes. Solche Gefühle waren etwas aus Kitschromanen mit gelben Rücken, aber ich selbst hätte nie geglaubt, dass es so etwas wirklich gibt. Dennoch ist mir genau das widerfahren. Als wir England schließlich erreichten, wusste ich, dass ich die Frau gefunden hatte, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will.«
»Und darf ich fragen, was der Anlass für Ihre Reise nach Europa gewesen ist?«, fragte Holmes und wandte sich dabei an die Ehefrau.
»Ich war in Chicago kurze Zeit verheiratet gewesen, Mr. Holmes. Mein Gatte war Immobilienmakler, und obwohl er als Geschäftsmann sehr geschätzt wurde und regelmäßig die Kirche besuchte, war er zu mir niemals nett. Er hatte abscheuliche Wutanfälle, und es gab etliche Gelegenheiten, bei denen ich um meine Sicherheit fürchtete. Ich hatte wenige Freunde, und er tat alles in seiner Macht Stehende, damit das auch so blieb. In den letzten Monaten unserer Ehe hat er mich sogar ins Haus eingesperrt, weil er wohl fürchtete, ich könnte mich öffentlich gegen ihn äußern. Aber dann erkrankte er plötzlich an galoppierender Schwindsucht und starb. Bedauerlicherweise erbten seine Schwestern nicht nur das Haus, sondern auch den größten Teil seines Reichtums. Ich blieb mit wenig Geld zurück und hatte weder Freunde noch sonstige Gründe, weiter in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Deshalb bin ich gegangen. Ich bin nach England gefahren, um einen neuen Anfang zu machen.« Sie schaute zu Boden und sagte mit offensichtlicher Demut: »Ich hatte freilich nicht erwartet, dass dieser Neubeginn mir so bald begegnen würde und dass ich jenes Glück, das so lange in meinem Leben gefehlt hatte, ausgerechnet an Bord der Catalonia finden würde.«
»Sie erwähnten eine Gesellschafterin, die mit Ihnen an Bord war«, erinnerte
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