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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Gleichgültigkeit. »Aber ganz abgesehen davon, was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Jeder Mann hat das Recht, zu heiraten, wen er will, auch ohne den Segen seiner Mutter. Oder seiner Schwester.«
    »Sie könnten doch ein paar Nachforschungen über sie anstellen.«
    »Das Leben Ihrer Schwägerin geht mich nichts an, Miss Carstairs.«
    Sie musterte ihn voller Verachtung. »Ich habe von Ihren Taten gelesen, Mr. Holmes«, sagte sie. »Und ich habe sie immer für übertrieben gehalten. Und trotz all Ihrer Klugheit hatte ich immer den Eindruck, dass Sie jemand sind, der keinerlei Verständnis hat für das menschliche Herz. Jetzt weiß ich, wie recht ich damit hatte.« Damit kehrte sie uns den Rücken und ging wieder ins Haus.
    Holmes sah ihr nach, bis die Tür sich hinter ihr schloss. »Höchst sonderbar«, stellte er fest. »Dieser Fall wird immer komplizierter und merkwürdiger.«
    »Ich habe noch nie eine Frau mit solcher Wut reden hören«, sagte ich.
    »In der Tat, Watson. Aber etwas würde ich doch gern genauer wissen; denn ich sehe allmählich immer größere Gefahren in dieser Situation.« Er betrachtete den Springbrunnen, die Steinfiguren und den Kreis gefrorenen Wassers. »Ich frage mich, ob Mrs. Catherine Carstairs wohl schwimmen kann.«

4

Die Baker-Street-Irregulären
    Holmes schlief lange am nächsten Morgen, und ich saß ganz für mich. Ich las The Martydom of Man von Winwood Reade, ein Buch, das er mir mehr als einmal empfohlen hatte, das ich aber ziemlich anstrengend fand, wenn ich ehrlich bin. Es war mir allerdings bald klar geworden, warum mein Freund so begeistert von diesem Autor war, der »Müßiggang und Dummheit« genauso innig hasste, wie er den »göttlichen Intellekt« voller Inbrunst verehrte. Seine These, dass es »zum Wesen des Menschen gehörte, beim Denken von sich selbst auszugehen«, und vieles andere hätte auch von Holmes selbst stammen können, und obwohl ich froh war, als ich die letzte Seite geschafft hatte und das Buch weglegen konnte, hatte ich zumindest das befriedigende Gefühl, dass ich etwas über das Innenleben des großen Detektivs erfahren hatte. Mit der Morgenpost war ein Brief von meiner Frau eingetroffen. In Camberwell stand alles zum Besten; Richard Forrester war nicht so krank, dass er sich nicht darüber gefreut hätte, sein altes Kindermädchen wiederzusehen, während Mary die Gesellschaft der Mutter genoss, die sie, ganz zu Recht, nicht wie eine ehemalige Angestellte, sondern wie eine gleichberechtigte Freundin behandelte.
    Ich hatte gerade meine Feder ergriffen, um Mary zu antworten, als es laut an der Tür klingelte und zahlreiche Füße die Treppe herauftrappelten. Es war ein Geräusch, das mir bestens bekannt war, und daher war ich keineswegs überrascht, als ein halbes Dutzend Straßenjungen ins Zimmer hereinstürmtenund unter dem Kommando des Größten und Ältesten der Reihe nach antraten.
    »Wiggins!«, rief ich, als der Name mir wieder einfiel. »Ich hätte gar nicht erwartet, dich noch einmal wiederzusehen.«
    »Mister ’olmes hat uns eine Nachricht geschickt, Sir, und hat uns in einer äußerst dringlichen Angelegenheit hergerufen«, erwiderte Wiggins. »Und wenn uns Mister ’olmes ruft, dann kommen wir.«
    Die Abteilung Baker Street der Kriminalpolizei hatte Sherlock sie einmal genannt, und zu anderen Zeiten: Die Irregulären. Einen zerlumpteren, schmuddeligeren Haufen hätte man sich kaum vorstellen können. Es waren Jungs zwischen acht und fünfzehn, zusammengehalten von Speck und Dreck, mit Kleidern, die so oft zurechtgeschnitten, geflickt und wieder zusammengenäht worden waren, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, wie viele Kinder sie schon irgendwann vor ihnen angehabt haben mochten. Wiggins trug den Mantel eines Erwachsenen, der in der Mitte geteilt worden war. Man hatte ein Stück herausgenommen und das Ober- und Unterteil wieder zusammengenäht. Einige der Jungen waren barfuß. Nur einer war etwas besser genährt und gekleidet, und man fragte sich unwillkürlich, welchen Missetaten – sei es nun Taschendiebstahl oder gar Einbruch – er diesen bescheidenen Wohlstand verdankte. Er war kaum mehr als dreizehn Jahre alt und wirkte doch genauso wie alle anderen reichlich erwachsen. Die Kindheit ist der erste kostbare Schatz, den die Armut den Kindern stiehlt.
    Einen Augenblick später erschien Sherlock Holmes und mit ihm Mrs. Hudson. Ich konnte sehen, dass unsere Wirtin äußerst aufgeregt und empört war. Sie versuchte auch gar nicht, ihre

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