Das Geheimnis des weißen Bandes
unserem Mann hinführen. Lestrade hat zumindest ermittelt, dass er den Zug nach London Bridge genommen hat. Wir müssen dasselbe tun. Der Bahnhof ist ja nicht weit, und es ist wirklich ein schöner Tag. Kommen Sie, wir gehen zu Fuß!«
Wir folgten der Einfahrt und kamen auf diese Weise noch einmal am Eingang des Hauses vorbei. Aber noch ehe wir die Straße erreichten, öffnete sich überraschend die Haustür und eine Frau kam heraus. Es war Eliza Carstairs, die Schwester des Kunsthändlers. Sie hatte sich ein Tuch um die Schultern gelegt, das sie vor der Brust zusammenhielt, aber ihre Gesichtszüge, der starre Blick und die dunklen Haarsträhnen, die ihr um den Kopf flogen, zeigten nur allzu deutlich, dass sie sich in einem Zustand von großer Erregung befand.
»Mr. Holmes!«, rief sie.
»Miss Carstairs?«
»Ich war Ihnen gegenüber recht unhöflich und muss um Entschuldigung bitten. Aber ich muss Ihnen sagen, dass da drinnen nichts so ist, wie es scheint, und wenn Sie uns nicht helfen und den Fluch vertreiben, der über dieses Haus gekommen ist, sind wir alle verloren.«
»Miss Carstairs, bitte fassen Sie sich!«
»Sie ist an allem schuld!« Die Schwester schleuderte ihren anklagenden Zeigefinger in Richtung des Hauses. »Catherine Marryat – denn das war ihr Name aus erster Ehe. Sie hat Edmund überfallen, als seine Kräfte auf einem Tiefstand waren. Er war immer schon eine sensible Natur, schon als Knabe, und es war unvermeidlich, dass er unter der harten Prüfung sehr leiden würde, die er in Boston bestehen musste. Er war erschöpft und krank – und ja, er brauchte tatsächlich jemand, der sich seiner annahm. Und so hat sie sich auf ihn gestürzt. Woher hat sie sich das Recht dazu genommen, diese dreiste Person, diese hergelaufene Amerikanerin ohne Familie und ohne Vermögen? Draußen auf dem Meer, an Bord dieses Schiffes, hatte sie tagelang Zeit, ihr Netz zu spinnen, und als er wieder nach Hause kam, war es zu spät. Wir konnten es ihm nicht mehr ausreden.«
»Sie hätten sich persönlich um ihn gekümmert?«
»Ich liebe ihn, wie es nur eine Schwester vermag. Und ebenso meine Mutter. Ich glaube keine Minute, dass sie bei einem Unfall gestorben ist. Wir sind eine anständige Familie, Mr. Holmes. Mein Vater hat mit Drucken und Kupferstichen gehandelt, er stammte aus Manchester, und er hat das Geschäft in der Albemarle Street gegründet. Leider ist er sehr früh gestorben, als wir noch recht klein waren, aber wir haben zusammen mit meiner Mutter in völliger Harmonie gelebt. Als Edmund seinen Entschluss verkündete, sich mit Mrs. Marryat zu verbinden, als er mit uns gestritten hat und keinem vernünftigen Ratschlag mehr zugänglich war, hat es meiner Mutter das Herz gebrochen. Natürlich wollten wir, dass Edmund heiratet. Sein Glück war für uns alle das Wichtigste auf der Welt. Aber ausgerechnet diese Person? Eine Abenteurerin, eine Ausländerin, die uns nie vorgestellt worden war und die sich von Anfang an nur für seine Stellung und für sein Geld interessierte, für den Schutz und den Luxus, den er ihr bieten konnte? Meine Mutter hat Selbstmord begangen, Mr. Holmes. Sie konnte mit der Schande und dem Unglück dieser verfluchten Ehe nicht leben. Deshalb hat sie sechs Monate nach der Hochzeit den Gashahn aufgedreht und sich aufs Bett gelegt, bis die Dämpfe ihr Werk getan und eine wohltätige Ohnmacht und das Vergessen sie von uns genommen haben.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen diese Absichten mitgeteilt?«
»Das war gar nicht nötig. Ich wusste, was sie im Sinn hatte, und war gar nicht weiter überrascht, als man sie fand. Sie hatte ihre Wahl getroffen. Dies ist kein angenehmes Haus mehr gewesen seit dem Tag, als diese Amerikanerin eintraf, Mr. Holmes. Und jetzt dieses neue Ärgernis, dieser Einbrecher, der bei uns eingedrungen ist und Mamas Halskette gestohlen hat, unsere liebste Erinnerung an diese liebe, dahingegangene Seele. Es ist alles Teil dieser üblen Affäre. Woher wissen wir eigentlich, dass dieser Fremde nicht wegen ihr gekommen ist und gar nichts mit einem Rachefeldzug gegen meinen Bruder zu tun hat? Sie saß zusammen mit mir im Wohnzimmer, als er zum ersten Mal hier auftauchte. Ich habe ihn selbst durchs Fenster gesehen. Vielleicht ist er ein alter Bekannter von ihr, vielleicht sogar mehr. Aber das ist alles erst der Anfang, Mr. Holmes. Solange diese Ehe besteht, ist keiner von uns vor ihr sicher.«
»Ihr Bruder scheint völlig zufrieden«, erwiderte Holmes mit einer gewissen
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