Das Geheimnis des weißen Bandes
denke, das reicht. Kellner, das Käsebrett! Und ein Glas Mosel für meinen Freund, Portwein wäre zu schwer für den Nachmittag.«
Es war kein weiter Weg zur Galerie Carstairs & Finch, und wir schlenderten gemütlich nebeneinander her. Ich muss zugeben, dass ich eine große Befriedigung über diese Augenblicke stiller Geselligkeit an der Seite einer Persönlichkeit wie Sherlock Holmes empfand. Ich fühlte mich als einer der glücklichsten Männer in London. Es war ungefähr vier Uhr nachmittags und das Licht begann schon zu schwinden, als wir die Albemarle Street erreichten. Die Galerie befand sich nicht direkt an der Straße, sondern in einem alten Kutschenhof, der daran angrenzte. Abgesehen von einer kleinen Tafel mit Goldschrift wies nichts darauf hin, dass es sich um Geschäftsräume handelte. Eine niedrige Tür führte in eine etwas düstere Eingangshalle mit zwei Sofas, einem Tisch und einer einzelnen Leinwand, die auf einer Staffelei stand – zwei Kühe auf einer Wiese von dem niederländischen Maler Paulus Potter. Als wir eintraten, hörten wir im Nebenraum zwei Männer miteinander streiten. Die eine Stimme erkannte ich. Es war die von Edmund Carstairs.
»Das ist ein sehr guter Preis«, sagte er. »Und ich bin mir meiner Sache ganz sicher, Tobias. Diese Werke sind wie guter Wein. Ihr Wert kann nur steigen.«
»Nein, nein, nein!«, erwiderte die andere Stimme mit einem schrillen Winseln. »Seestücke nennt er das. Nun ja, das Meer kann ich sehen … aber sonst ist nicht viel drauf. Seine letzte Ausstellung war ein Fiasko, und jetzt ist er nach Paris geflüchtet, wo sein Ansehen immer mehr schwindet, wie ich gehört habe. Es ist reine Geldverschwendung, Edmund.«
»Sechs Gemälde von Whistler –«
»Sechs Gemälde, die wir nie wieder loswerden!«
Ich stand immer noch an der Tür und schloss sie jetzt etwas lauter als nötig, um den beiden Männern unsere Anwesenheit anzuzeigen. Das hatte auch die gewünschte Wirkung. Die Unterhaltung brach ab, und kurz darauf trat ein dünnes, weißhaariges Männlein in einem untadeligen schwarzen Anzug mit weißem Kragen und schwarzer Fliege hinter einem schweren Vorhang hervor. Über seiner Weste hing eine Goldkette, und auf seiner Nasenspitze balancierte ein goldener Kneifer. Er musste mindestens sechzig sein, aber sein Gang war elastisch und in jeder seiner Bewegungen zeigte sich eine nervöse Energie.
»Ich nehme an, Sie sind Mr. Finch«, sagte Holmes.
»Ja, Sir. Der bin ich. Und Sie sind …?«
»Ich bin Sherlock Holmes.«
»Holmes? Ich glaube nicht, dass man uns vorgestellt hat, aber der Name kommt mir bekannt vor –«
»Mr. Holmes!« Jetzt war auch Carstairs in die Eingangshalle gekommen. Der Unterschied zwischen den beiden Männern war eklatant; der eine war alt und verhutzelt und schien fast zu einer anderen Zeit zu gehören; der andere war jünger und eleganter, und seine Züge zeigten noch die Verärgerung, die ohne Zweifel von der Auseinandersetzung herrührte, die wir gerade mit angehört hatten. »Mr. Holmes ist der Detektiv, von dem ich Ihnen erzählt habe«, erklärte er seinem Partner.
»Ja, ja, natürlich, ich weiß. Er hat sich gerade selbst vorgestellt.«
»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen«, sagte Carstairs.
»Ich bin gekommen, weil es mich interessierte, Ihre berufliche Wirkungsstätte kennenzulernen«, erläuterte Holmes. »Aber ich habe auch noch ein paar Fragen an Sie bezüglich der Agenten von Pinkerton’s, die in Boston für Sie gearbeitet haben.«
»Eine grauenhafte Geschichte!«, warf Finch dazwischen. »Ich werde mich vom Verlust dieser Bilder bis zum Ende meinerTage nicht mehr erholen. Es war die größte Katastrophe meiner Karriere. Wenn wir ihm bloß ein paar von Ihren Whistlers verkauft hätten, Edmund. Kein Hahn hätte danach gekräht, wenn die in die Luft gesprengt worden wären!« Wenn der alte Mann erst einmal in Fahrt war, schien es unmöglich, ihn wieder zu stoppen. »Kunsthandel ist ein respektables Gewerbe, Mr. Holmes. Wir haben Geschäftsbeziehungen zu vielen adeligen Kunden. Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, dass die Leute von unseren Auseinandersetzungen mit Revolverhelden und Mördern erfahren!«
Das Gesicht des alten Mannes verzog sich entsetzt, als ihm bewusst wurde, dass ihm noch weitere Schrecken bevorstanden; denn im selben Augenblick war die Tür aufgeflogen und ein struppiger Straßenjunge stürzte herein.
Es handelte sich um keinen anderen als Wiggins, der für mich keine große
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