Das Geheimnis meiner Mutter
dass alles in Ordnung war. Eines Tages war sie dann nach Hause gekommen und hatte gesagt: „Ich werde in vier Kursen durchfallen.“
„Okay“, sagte er. „Machen wir gleich weiter. Was macht der Job? Gefällt es dir, in der Bäckerei zu arbeiten?“
„Der Job in der Bäckerei ist gut. Ich habe zwei Freunde gefunden – Zach und Sonnet –, und die sind auch gut. Und es ist schön, für meine bisher unbekannte Cousine zu arbeiten. Siehst du? Alles ist gut.“
Das war noch etwas, was Greg in seinem Crashkurs zum Vatersein kennengelernt hatte: die Macht des Schweigens. Manchmal, wenn man seinen Mund hielt und einfach abwartete, rückte ein Kind mit den Sachen heraus, die es wirklich beschäftigten. Er war erstaunt, dass das noch nicht mehr Erwachsene herausgefunden hatten. So viele Eltern, die er kannte, neigten dazu, jede Pause mit reden, reden und noch mehr reden zu füllen. Gregs Kinder hatten ihm beigebracht, dass die wichtigen Dinge oft in der Mitte einer langen Periode des Schweigens an die Oberfläche kamen. Nachdem man zum Beispiel schon zwei Stunden in einem Boot gesessen und versucht hatte, einen Fisch zu fangen. Oder wenn man inmitten einer stillen Schneelandschaft stand.
Es fiel ihm nicht leicht, aber er wartete einfach ab. Schüttelte den Schnee von einem seiner Skier, holte einen Fettstift aus seiner Jackentasche und schmierte sich die Lippen ein. Blinzelte in die Sonne. Der blaue Himmel war heute ganz besonders, er hatte eine Härte, die im scharfen Kontrast zu dem Weiß des Schnees und der Rinde der Birken stand. Auf einmal war es gar nicht mehr schwer, still zu sein. Er konnte Geräusche hören, die einem in der Stadt verborgen blieben. Das Plätschern eines Bachs, der von Eis bedeckt war. Das Rascheln des Windes in den getrockneten Rohrkolben am Teich. Das Tirilieren einer Meise im Gebüsch.
Es war ein perfekter Augenblick, fand er. Hier auf diesem wunderschönen Flecken Erde zu stehen, gemeinsam mit seiner geliebten Tochter, die nach der Scheidung eine so schwere Zeit durchgemacht hatte. Doch jetzt endlich schien sich auch für sie alles zum Guten zu wenden.
Sie holte ihre Kamera heraus, die neue, die er ihr im letzten September geschenkt hatte. Daisy hatte schon immer einen Blick für besondere Motive gehabt. Mit einer Kamera, die mit ihren Fähigkeiten mithalten konnte, zeigte sich ihr wahres Talent. Die Bilder, die sie machte, überraschten ihn immer wieder.
Greg schaute ihr anerkennend zu. Sie arbeitete mit Selbstsicherheit und einem natürlichen Instinkt, der sie für jeden Schuss den besten Winkel finden ließ. Ihre Fertigkeit im Umgang mit der Kamera war zutage getreten, als … ja, genau, ihre Leidenschaft für die Fotografie war in dem Moment entstanden, als Sophie und er sich entschieden hatten, getrennte Wege zu gehen.
Als er ihr die Kamera geschenkt hatte, war sie besessen davon gewesen, ihn und Sophie und Max zu fotografieren. Am liebsten alle gemeinsam. Er nahm an, weil ein Bild einen Augenblick für immer festhielt: Hier ist meine Familie, bevor sie zerbrochen ist. In ihrem Fotokurs hatte sie dann gelernt, sich anderen Themen zu nähern, hatte viel Architektur und Natur fotografiert und jede Farbe oder Form, die ihr ins Auge fiel. Auf eine Art erinnerte sie ihn an sich selbst in dem Alter, als er seine Leidenschaft fürs Design entdeckte. Im Laufe der Zeit war sein Erfolg dann leider sein Untergang geworden.
Eine eigene Firma aufzubauen hatte ihn vollkommen in Anspruch genommen. Er hatte kaum noch Zeit für seine Familie gehabt – oder seine Ehe. Schließlich hatte er die Ehe verloren, und das Leben mit seinen Kindern hing auch nur noch an einem seidenen Faden. Er wünschte, er könnte Daisy sagen, dass sie die Leidenschaft für ihre Kunst mit anderen Elementen ausbalancieren sollte, damit sie nicht komplett von ihr vereinnahmt würde und andere Dinge vernachlässigte, die ebenfalls wichtig waren. Aber er konnte ihr genauso wenig etwas sagen, wie er sich als Kind von seinen Eltern etwas hatte sagen lassen.
Eine Zeit lang schien Daisy ganz vergessen zu haben, dass er da war. Er wusste, dass die heutigen Fotos großartig werden würden. Es war einer dieser perfekten Wintertage, die wie ein unerwartetes Geschenk kamen.
„Guck weiter zur Seite“, sagte sie. Er war überrascht, dass sie das Objektiv auf ihn ausgerichtet hatte. „Okay, und nun trink einen Schluck aus der Wasserflasche.“
Er tat ihr den Gefallen, nahm einen Schluck und stützte sich dann mit
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