Das Geheimnis meiner Mutter
gegenüber nicht zugeben, dass er scharf auf die Bürgermeisterin der Stadt war. „Wie auch immer, ich habe dankend abgelehnt.“
Daisy knabberte an ihrem Gebäck. „War sie böse?“
„Nein. Sie war sogar sehr nett.“
„Sie ist sehr nett. Deshalb ist sie vermutlich auch Bürgermeisterin geworden.“
„Also findest du sie nett, denkst aber trotzdem, ich sollte nicht mit ihr ausgehen?“
„Ehrlich, Dad, es ist deine Entscheidung. Aber ich denke, das wäre irgendwie bizarr. Komplett und total bizarr.“
„Ich habe ihr ja auch Nein gesagt. Ende der Geschichte.“ Das war es natürlich nicht. Es fühlte sich eher nach einem Anfang an.
Der Parkplatz des Avalon Meadows Golf- und Countryclubs war beinahe leer, aber kürzlich erst vom Schnee geräumt worden. Der Club hatte eine Vereinbarung mit der Stadt, dass im Winter auf seinem Gelände Langlaufloipen angelegt werden durften. Greg stellte das Auto ab und ging nach hinten, um die Ausrüstung herauszuholen. Skier und Stöcke und einen Rucksack mit zwei Flaschen Wasser, einer Tüte Studentenfutter und Daisys Kamera. Er betrachtete die schneebedeckte Landschaft, und beim Anblick der weichen Hügel und Senken des Golfplatzes überfiel ihn ein nostalgisches Gefühl. Es war so scharf und süß wie die kalte Winterluft. Das hier war ein Ort, an dem die Zeit stillstand, wo die vorübergehenden Jahre keine Spuren hinterließen. Es sah genauso aus wie damals, als er noch ein Junge gewesen war. Das im Kolonialstil erbaute Backsteingebäude des Clubs, die wunderschön gestaltete Landschaft der mit Bäumen gesäumten Fairways, die Teiche, an deren Ufern Rohrkolben wuchsen. Dramatische Hügelkuppen und unnatürlich ebene Greens, die nun wie weiße Scheiben dalagen.
Als Kind hatte Greg die Anlage des Golfplatzes genauso fasziniert wie der Sport selber. Es war ihm egal, ob er einen Golfball schlug oder einfach nur am Rande des Waldes stand, wo es so still war, dass er hören konnte, wie die fallenden Blätter auf dem Waldboden aufkamen.
Für ein paar Sekunden war es möglich, hier zu stehen und wieder dieses Kind zu sein, erfüllt von Staunen und im Einklang mit der Welt. Nur für ein paar Sekunden war er nicht der verwirrte Achtunddreißigjährige, der versuchte, ganz von vorne anzufangen und Familie und Arbeit in einer neuen Stadt unter einen Hut zu bringen.
„Lass uns diesen Weg nehmen“, schlug er Daisy vor. Sie glitten den markierten Weg entlang. Ihre schmalen Skier passten genau in die Spuren, die der Loipenzieher am frühen Morgen neu gezogen hatte.
Es war schön hier draußen in der Stille allein mit Daisy. Das einzige Geräusch war das rhythmische Gleiten ihrer Skier auf der Loipe und der begleitende Gleichtakt ihres Atems. Greg gab sich diesem Gefühl ganz hin, versenkte sich in sich selbst und hörte auf nachzudenken. Nach einer Weile fingen sie beide von der Anstrengung an zu schwitzen.
Daisy sagte: „Ich möchte gerne ein paar Bilder machen. Hast du was dagegen, wenn wir eine kleine Pause einlegen?“
„Überhaupt nicht.“
Sie hatte einen Platz ausgesucht, an dem eine Gruppe Birken an einem kleinen Bach stand, der in einen Teich mündete. Dieser war jetzt eine schneebedeckte Eisschicht. Eine handgemachte Brücke spannte sich über den Bach. Bei wärmerem Wetter würden überall kleine Gruppen Golfer zu sehen sein, doch jetzt gab es hier nichts außer Meisen und Schneeschuhhasen.
„Wie geht es dir?“, fragte Greg.
Sie lehnte sich gegen einen Zaun. „Ganz gut.“ Ihre Wangen waren rosig, und doch war da etwas in ihren Augen, ein leichtes Anzeichen von Unruhe.
„Bist du sicher?“ Er reichte ihr eine Flasche Wasser aus dem Rucksack.
Sie schraubte den Deckel auf und nahm einen Schluck. „Klar.“
Der alte Greg, der nicht genug Zeit mit seinen Kindern verbracht hatte, hätte ihre Antwort einfach so hingenommen. Aber eine Sache, die sich seit der Scheidung verändert hatte, war, dass Greg und seine Kinder Freunde geworden waren. Jetzt wusste er, dass „Klar“ nicht unbedingt bedeutete, dass es ihr wirklich gut ging. Dem Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen, hieß es vielmehr: „Grab tiefer, Dad. Du wirst nicht lange brauchen, um herauszufinden, was los ist, wenn du nur die richtigen Fragen stellst.“
„Wie läuft es in der Schule?“, fragte er also weiter.
Sie lächelte kurz, als hätte er etwas Ironisches gesagt. Vielleicht hatte er das auch. In der Vergangenheit hatte er die gleichen Fragen gestellt und ihre Antwort akzeptiert,
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