Das Geheimnis meiner Mutter
in Eile gewesen, dass er sich ein Auto geliehen oder gemietet hatte, um zu Jenny nach Hause zu rasen. Es war dumm gewesen von Rourke, zu glauben, Joey würde auf den nächsten Zug warten. Er hätte es wissen müssen, hätte – Job hin oder her – alles stehen und liegen lassen müssen, um seinen Freund abzuholen.
„Joey“, sagte er und trat neben die beiden hektischen Sanitäter. „Hey, Kumpel, ich bin’s. Kannst du mich hören?“
Joeys Augenlider flatterten. Überall war Blut, mehr Blut, als Rourke je gesehen hatte. Dunkel wie Ölschlamm vermischte es sich mit dem Regen.
„Sie kennen ihn?“, fragte einer der Rettungskräfte. Sein Gesichtsausdruck verriet Rourke, dass er sich auf das Schlimmste gefasst machen sollte.
„Ja“, sagte Rourke und griff nach … es gab nichts, was er hätte anfassen können. Nur Schläuche und Blut. „Verdammt, Joey, sieh dich doch an.“
Um den Mund seines Freundes zuckte es. „Rourke. Mann … tut mir leid.“
„Hey, mach dir keine Sorgen.“ Rourke sprach über den Lärm der hin und her eilenden Sanitäter hinweg. Ihm war schlecht, aber er schaffte es irgendwie, zu lächeln. „Das muss dir nicht leidtun“, sagte er. „Du machst das toll, Joey. Diese Männer hier werden dir helfen.“
In Joeys Lächeln lag etwas Unbeschreibliches, beinahe wie ein Strahlen. Ganz sicher wusste Joey, dass er das gar nicht gut machte.
„Sag ihr …“ Seine Augen rollten nach oben.
„Joey!“
Er schaute ihn wieder an. Bewegte seinen Mund, doch es kam kein Ton. Dann verdrehte er wieder die Augen.
„Sie weiß es, Kumpel. Ich schwöre, ich …“ Etwas veränderte sich. Ein Schauer durchlief Joeys Körper. „Verdammt“, schrie Rourke. „Tut doch was! Könnt ihr denn nicht irgendetwas tun?“
Ein Klopfen erschreckte Jenny um kurz vor neun Uhr abends. Granny hatte es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht, und Jenny trug ihren bequemen, aber hässlichen Pyjama. Sie schnappte sich einen Pullover und war ein wenig verlegen. Es war erst neun Uhr abends, und sie trug schon ihren Schlafanzug, wie eine alte Jungfer. Andere Menschen in ihrem Alter gingen an einem Abend wie diesem auf ein paar Drinks in die Whistle Stop Tavern oder brachten ihre Kinder ins Bett. Sie nahm an, sie war die Einzige in Avalon, die in ihrem Schlafanzug eine Tasse Kamillentee trank und sich bereit machte, mit ihrer Großmutter zusammen eine Wiederholung von Buffy – Im Bann der Dämonen anzusehen.
Sie zog den Pullover über und öffnete die Tür. Da stand Rourke in militärischer Haltung, seine Polizeimütze unter den Arm geklemmt, die Schultern gestrafft, den Kopf gerade. Ihr Herz stolperte.
„Rourke?“
Er trat ein, und sie sah etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – er war kurz davor zusammenzubrechen. Sein Gesicht war ausgezehrt und blass, seine Augen rotgerändert. Seine Hände zitterten, nein, sein ganzer Körper zitterte. „Es ist Joey“, sagte er.
„Joey? Aber der ist in Washington, D.C. Im Walter Reed. Ich wollte ihn nächstes Wochenende besuchen fahren …“
„Er ist entlassen worden.“ Rourke räusperte sich. „Er war auf dem Weg hierher, um dich zu sehen. Es hat einen Unfall gegeben.“
Ihre Gedanken rasten zu einem Ort der Hoffnung – das war ein weiterer falscher Alarm. Das war schon einmal passiert, und es konnte wieder passieren. Jemand hatte die falsche Information weitergegeben. Wenn sie nur ihre Augen schließen und fest daran glauben könnte, würde alles gut werden. Aber ihre Augen, die Verräter der Hoffnung, blieben offen, und sie sah die Wahrheit in dem getrockneten Blut auf Rourkes Uniform, auf seiner Haut, unter seinen Fingernägeln. Er hatte sich Mühe gegeben, sich wieder herzurichten, das erkannte sie an den gekämmten Haaren, dem Geruch nach Seife. Aber es nützte nichts. Dieses Mal war Joey wirklich weg.
Langsam gaben ihre Knie nach, und sie sank zu Boden. Rourke packte ihre Arme und hielt sie aufrecht. Er sprach zu ihr, und er sah aus wie jemand anders, jemand, der beinahe so schwer verletzt worden war wie Joey. Sie konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, als er ihr erklärte, was passiert war. Sie konnte sogar die Wörter hören. Joey war in den ersten Zug nach New York gesprungen und dann gleich weiter in den Expresszug nach Kingston. Die Tinte auf seinen Entlassungspapieren war noch feucht. In Kingston hatte er ein Auto gemietet, um damit den Rest des Weges nach Avalon zu fahren. Er hatte sie überraschen
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