Das Geheimnis meiner Mutter
in der Schule, und weil sie aus einer so großen Familie kam, erhielt sie nicht viel Hilfe bei den Hausaufgaben. Mrs Romano kam fast jeden Tag eine Viertelstunde vor Ladenschluss in die Bäckerei. Sie wusste genau, um welche Uhrzeit das Brot vom Vortag zum halben Preis verkauft wurde.
Jenny hatte damals in Ninas freundliche, neugierige Augen geschaut und eine verwandte Seele entdeckt. Sie wurden die besten Freundinnen und fühlten sich in Jennys Haus in der Maple Street genauso wohl wie in Ninas Zuhause an der Elm Street. Nina liebte die Stille und Ruhe von Jennys Zuhause. Sie hörte manchmal mitten im Barbiespielen auf und sagte mit ehrfürchtiger Stimme: „Ich kann die Uhr ticken hören!“
Jenny hingegen liebte den Krach und das Chaos des Romano-Haushalts. Je älter die Kinder wurden, desto lauter und ungestümer wurden sie. Irgendjemand schrie immer gerade jemand anderen an. Streitereien flammten auf und verglühten wieder, wie Streichhölzer, die angezündet wurden und abbrannten. Jenny genoss das Leben und die Leidenschaft, die sie hier erlebte. Sie war fasziniert von der Fähigkeit der Geschwister, sich wegen nichts und wieder nichts in die Haare zu kriegen.
„Ich würde alles dafür geben, eine Schwester zu haben“, sagte sie.
„Sei froh, dass du keine hast“, erwiderte Nina und rieb sich über die Stelle, wo ihre Schwester Loretta sie gerade an den Haaren gezogen hatte. „Du willst definitiv keine Schwester. Und auch keinen Bruder.“ Einmal hatte ihr Bruder Carmine ihr Tagebuch geklaut und es über das Lautsprechersystem der Schule laut vorgelesen. Die Vorstellung, dass ihr Geschriebenes jemals so verkündet würde, fand Jenny ziemlich aufregend, aber das verriet sie keinem.
An einem Sommertag, an dem laut den Erwachsenen eine „Affenhitze“ herrschte, befanden Jenny und Nina sich in der ungewohnten Lage, nichts zu tun zu haben. Sie beschlossen, in die Bäckerei zu gehen, was für Nina ein so besonderes Vergnügen war, dass es Jenny auch ganz speziell vorkam, obwohl die Bäckerei ja so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer war. Zu Jennys Überraschung fanden sie ein Dutzend kleiner Mädchen in der Backstube. Laura erklärte, dass gerade Elternwochenende im Camp Kioga war. Die Eltern aller Campbewohner kamen von nah und fern zu Besuch, und das Camp bot an diesem Wochenende besondere Ausflüge an, wie zum Beispiel eine Führung durch eine echte Backstube. Die Leute schienen es unglaublich faszinierend zu finden, wie aus einem Stück Teig ein Brot wurde.
Die Mädchen trugen alle rote Shorts und graue T-Shirts mit dem Camp Kioga-Logo. Ihre Eltern – die Mütter in gebügelten ärmellosen Blusen und die Väter in Golf-T-Shirts und Bermudas – standen im Hintergrund und schauten zu. Jedem Mädchen war ein Schild ans T-Shirt geheftet worden, auf dem stand: „Hallo, mein Name ist …“ Dann folgte ein typischer Reiches-Mädchen-Name, wie Jenny fand: Ondine und Jacqueline, Brooke und Blythe und Garamond, Dare und Lolly.
„Wir sind die Fledglings“, sagte die kesse Betreuerin, die ein Schild mit „Hallo, mein Name ist Buffy“ trug. „Das heißt, wir sind die Gruppe der Acht- bis Elfjährigen. Und es bedeutet außerdem, dass wir die besten Ausflüge machen, nicht wahr, Fledglings?“
Als Antwort zwitscherten die Mädchen aufgeregt durcheinander, ganz wie ihr Gruppenname andeutete – die Küken.
Jenny und Nina schlugen sich die Hände vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Als die Gruppe sich zur nächsten Station aufmachte, ließ sich ein etwas pummeliges Mädchen vom Ende der Reihe zurückfallen und lungerte ein wenig in Jennys Nähe herum. „Ich bin Olivia Bellamy.“
„Hey, Olivia“, sagte Jenny, obwohl sie sah, dass auf dem Namensschild „Lolly“ stand.
Sie warf einen Blick zu einem großen, ernst aussehenden Mann, der bei den anderen wartenden Eltern stand. Er hatte sandfarbenes Haar und helle Augen und schien sich zu wünschen, sonst wo zu sein, nur nicht in der Enge der Backstube. Das Mädchen folgte ihrem Blick und flüsterte: „Meine Eltern lassen sich scheiden.“
„Das tut mir leid.“ Jenny fühlte sich ein wenig unbehaglich. Manchmal waren Kinder schon komisch. Erzählten ihre Geheimnisse einfach einer Wildfremden, so wie Jenny ihre ihrem Tagebuch anvertraute. „Nimm dir doch einen Donut, Olivia.“
Laura klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich zu ziehen. „Mein Name ist Miss Tuttle“, sagte sie. „Ich werde euch hier alles zeigen, und dann
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