Das Geheimnis meiner Mutter
offensichtlich nicht sonderlich begeistert davon, der Sohn eines Senators zu sein. „Wir gehen dann besser mal“, sagte er.
Jenny und Joey tauschten einen Blick. Sie mussten nichts sagen. Sie waren gleich, sie beide, still, von Immigranten aufgezogen. Joeys zu hübsche Augen strahlten sie an. Nachdem sie von den Jungen im Camp so bedrängt worden war, hatte Jenny dem Küssen für immer abschwören wollen. Doch nach einem weiteren Blick auf Joey und Rourke war sie bereit, es sich noch einmal zu überlegen.
Die Trillerpfeife eines Betreuers ertönte, und Rourke stieß Joey in die Seite. „Komm, lass uns gehen.“
„Wir sehen uns“, sagte Joey zum Abschied.
Als die Kinder mit ihren Eltern davongingen, ging Nina dramatisch in die Knie und fasste sich ans Herz. „Oh mein Gott, du hattest recht. Er ist ja so süß!“
„Welcher?“
„Gute Frage. Sie sind beide süß, aber Joey sieht meinen Brüdern zu ähnlich.“
Das stimmte. Joey würde inmitten der Romanos gar nicht auffallen. Wohingegen Rourke im Vergleich mit ihnen so blond und patrizisch aussah wie Prince Charming.
„Ist aber auch egal“, sagte Nina. „Er steht sowieso auf dich, nicht auf mich.“
Jenny schoss sofort das Blut ins Gesicht. „Du spinnst doch.“
„Du brauchst es gar nicht zu leugnen. Und tu bloß nicht so, nach dem Motto ‚Wir kennen uns doch gar nicht‘ und so. Ich weiß, was ich weiß. Und dazu gehört, dass auch Joey ein Auge auf dich geworfen hat.“
Ein Schwindelgefühl ergriff Jenny und machte sie aufgeregt und gleichzeitig verlegen. Diese ganze Sache mit den Jungs war sowohl wunderschön als auch ganz fürchterlich. „Zuerst einmal“, sagte sie, „liegst du da falsch, und zweitens, wenn du zu einem von ihnen was sagst, erzähle ich allen in der Bäckerei, dass du Diabetes hast und niemand dir jemals wieder was zu essen geben darf.“
Nina schnaubte verächtlich. „Das würdest du nicht wagen.“
Jenny stemmte die Hände in die Hüften. „Probier’s lieber nicht aus.“
„Er steht total auf dich“, behauptete Nina noch einmal.
Jennys Wangen brannten. Sie mochte beide Jungs. Joey, weil er so lustig, unkompliziert und ihr so ähnlich war. Und Rourke, weil er gut aussah und geheimnisvoll und irgendwie sorgenvoll wirkte. Wenn sie ihn anschaute, verspürte sie ein seltsames Ziehen in ihrem Herzen. Die ganze Angelegenheit, Jungen zu mögen, war ganz schön kompliziert, entschied sie. Vielleicht war es gut, dass sie beide weit weg in der Stadt wohnten. Am Ende des Sommers wären sie beide fort, und sie müsste keinen von beiden länger mögen.
In jedem Sommer, der folgte, beobachtete Jenny, wie die Camper am Bahnhof aus dem Zug ausstiegen, und wartete gespannt, ob Rourke McKnight sich unter ihnen befinden würde. Und jedes Mal war er da, noch größer und goldener als im vorangegangenen Jahr. Joey veränderte sich nicht sehr. Er lachte immer über irgendetwas und betrachtete Jenny mit einem Blick, der sie nicht verlegen machte, sondern unter dem sie sich wie etwas Besonderes fühlte. Rourke war ruhiger, und wenn er sie anschaute, fühlte sie sich nicht besonders, sondern … verunsichert.
Im dritten Sommer sagte er ihr, dass es der letzte für ihn und Joey als Camper sei. Es war am Tag vor dem Vierten Juli. Sie war auf einer Auslieferungstour der Bäckerei im Camp und stahl sich schnell davon, als sie Rourke sah. Als er ihr die Neuigkeit mitteilte, reagierte sie darauf ganz seltsam. Auf der einen Seite war sie enttäuscht, weil es bedeutete, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Auf der anderen Seite machte ihr Herz einen Sprung, weil sie dachte, wenn sie wenigstens einmal von ihm geküsst werden wollte, müsste sie sich jetzt beeilen, denn der Sommer war fast rum.
Sie hatte zwei ganze Sommer darauf gewartet.
Sie schaute sich um. Sie waren allein, weil es in Strömen regnete und die meisten Campbewohner in ihren Hütten oder im Haupthaus waren, um zu spielen, zu malen oder sich sonst wie die Zeit zu vertreiben. Sie suchten unter der Terrasse des Haupthauses Schutz vor dem Regen.
„Ich kann nicht glauben, dass es dein letzter Sommer hier ist“, sagte sie und trat einen Schritt auf ihn zu. Sie schaute auf seinen Mund, was laut dem Artikel in der Seventeen ein nonverbales Zeichen war.
Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ja, dachte sie, ja, er weiß es. Jenny machte noch einen Schritt und schloss die Lücke zwischen ihnen. Sie versuchte es jetzt anders – sie leckte sich mit der Zunge über die
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