Das Geheimnis meiner Mutter
Jenny-Lied. Es heißt „867-5309/Jenny“ und ist von Tommy Tutone.
Jenny ist als Name ganz okay, denke ich. Auch wenn der Typ, der das Lied singt, ihn von einer Wand in einer öffentlichen Toilette hat.
Aber es ist ein fröhliches Lied, und ich habe die perfekte Erinnerung daran, wie du, das Haar von einer Schmetterlingsspange zurückgehalten und mit einer von Grannys Schürzen an, mitsingst, während du die Bleigewichte fürs Angeln machst.
An irgendeinem Punkt in der Erinnerung kommt Granny in die Küche und schimpft mit dir, weil du die gute Soßenpfanne benutzt hast, die jetzt kontaminiert ist, sodass sie eine neue Pfanne kaufen muss.
Ich erinnere mich an dein Lachen und das Funkeln in deinen Augen, als du sagtest: „Ma, ich kaufe dir hundert neue Soßenpfannen. Und einen Diener, um die Soßen zu machen, und einen weiteren, um die Soße über deine Kartoffeln zu gießen. Ich kaufe dir alles, was du willst!“ Und dann hast du mich hochgehoben, und wir sind zum Jenny-Lied durch die Küche getanzt.
Ich denke, das ist meine letzte Erinnerung an dich. Ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist und wie viel ich mir ausgedacht habe. Aber ich weiß, dass alle Bleigewichte, die du gemacht hast, immer noch unten in Grandpas Angelbox liegen. Er benutzt sie nie. Er nimmt lieber Schrotkugeln. Er meint, die Gewichte, die du gemacht hast, sind zu schwer. Und außerdem will er nicht riskieren, sie zu verlieren.
Als wenn das Festhalten an etwas, das du gemacht hast, dich zurückbringen würde.
Heute musste Grandpa eine Lieferung ins Camp Kioga bringen. Im Sommer sind das die besten Kunden, weil sie ein paar Hundert Kinder bei sich im Camp haben. Es war einer dieser perfekten Tage mit stahlblauem Himmel, und ich war froh, Grandpa bei der Lieferung begleiten zu dürfen, anstatt in der stickigen Bäckerei zu hocken. Im Camp ist er in die Küche gegangen, und ich bin im Auto sitzen geblieben und habe Radio gehört. Es war auf WKRW eingestellt, den Sender, der nur Oldies spielt. Und rate mal, welches Lied da gerade kam? „867-5309/Jenny“.
Ich habe darin ein Zeichen gesehen.
Allerdings stellte es sich als böses Zeichen heraus, denn drei Jungen aus dem Camp fingen an, Sachen aus dem Lieferwagen zu klauen. Als ich sie das erste Mal sah, war ich verwirrt. Ich meine, ich bin noch nie zuvor beklaut worden. Es fühlte sich … eklig an. Als wenn jemand mir direkt was antut. Alleine beim Gedanken daran fühle ich mich wieder ganz fies.
Es tut mir außerdem leid, dir mitteilen zu müssen, dass ich Angst bekam. Beinahe hätte ich mich auf den Fußboden des Wagens gleiten lassen und dort versteckt, bis sie sich alles genommen hätten, was sie wollten, und verschwunden wären.
So, jetzt habe ich es zugegeben. Ich hatte Angst. Was für ein Baby ich doch bin.
Im Sozialunterricht habe ich einen Aufsatz über Eleanor Roosevelt geschrieben, die ein paar ganz berühmte Sätze gesagt hat. Einen davon kann ich noch auswendig: „Mit jeder Erfahrung, bei der wir innehalten, um der Angst ins Gesicht zu sehen, gewinnen wir Stärke, Mut und Selbstvertrauen.“
(Ich bekomme nur Einsen in der Schule, hab ich dir das schon erzählt?)
Als ich also wie versteinert dort auf meinem Sitz saß, während die Jungen unseren Lieferwagen ausräumten, erinnerte ich mich an diese Worte. Und ich dachte: Na gut, Eleanor, wenn du meinst; aber vermutlich werde ich mir einen dicken Tritt in den Hintern einfangen.
Was auch beinahe genauso geschehen wäre. Na ja, nicht wirklich. Die Jungs – drei typische reiche Bubis mit glänzenden Haaren und strahlend weißen Zähnen – machten etwas anderes. Etwas, das ich nicht erwartet hatte. Sie machten sich darüber lustig, dass ich beim Ausliefern der Backwaren helfen musste. Dann fingen sie an, mich herumzuschubsen und Sachen zu sagen wie: „Wie wäre es mit einem Kuss?“ oder „Ich wette, du kannst mehr als nur küssen.“
Der Hauptjunge, der wohl das Sagen hatte, drückte mich gegen den Lieferwagen und versuchte, mich zu küssen. Das Komische ist: Ich denke die ganze Zeit daran, wie es ist, einen Jungen zu küssen. Und nicht nur ich, meine ganzen Freundinnen auch. Wir haben sogar schon mit unseren Kissen das Küssen geübt. Also war das jetzt kein ganz großes Geheimnis für mich.
Aber es war weder romantisch noch lustig noch so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.
Ich wäre lieber in den Hintern getreten worden.
Ich rede mir gerne ein, dass ich mich gewehrt habe, aber das stimmt nicht ganz. Ich wurde
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