Das Geheimnis meiner Mutter
Beispiel heute, habe ich das Gefühl, der Geruch erdrückt mich und ich kann kaum atmen.
„So ein schöner Sommertag“, hat Laura gesagt. „Da solltest du draußen an der frischen Luft sein.“
Laura versteht mich. Sie sagt, sie ist wie eine zweite Mutter für mich, aber das stimmt nicht ganz. Um eine zweite Mutter haben zu können, braucht man erst mal eine erste, und die habe ich nicht. Ich erzählte den Leuten immer, dass du undercover für die Regierung arbeitest. Als ich klein war, dachte ich, sie würden mir glauben, aber heute sehe ich es in ihren Gesichtern – sie denken, du bist abgehauen und nie zurückgekommen, weil du keine Lust auf den Ärger hattest, den es bedeutet, ein Kind alleine großzuziehen.
Aber weißt du was? Ich mache gar nicht so viel Ärger. Da kannst du ruhig alle fragen.
Wie heute. Da war Grandpa froh, dass ich mit ihm gekommen bin. Er ist gerade in Rente gegangen von seinem Job in der Glasfabrik in Kingston. Wegen des Lärms in der Fabrik ist er inzwischen schwerhörig. Jetzt hilft er in der Bäckerei aus und geht, so oft es geht, am Willow Lake angeln. Er ist mit Mr Bellamy befreundet, dem der See und Camp Kioga gehören.
Angeln ist Grandpas große Leidenschaft, und er tut es das ganze Jahr über. Sogar mitten im Winter, wenn er auf den zugefrorenen See gehen und ein Loch in die einen halben Meter dicke Eisdecke bohren muss. Manchmal muss er sich ein Schneemobil borgen, um überhaupt zum See hinaufzukommen, weil die Straßen nicht geräumt sind. Er sagt, er mag es, ganz allein mitten im Nirgendwo zu sein.
Manchmal gehe ich mit ihm, aber ich finde Angeln unglaublich langweilig. Ich meine, man sitzt einfach rum und wartet, dass irgendein Fisch den Köder schluckt und man ihn dann aus dem Wasser zerren und mit nach Hause nehmen kann, wo man ihn ausnimmt, mit Kräutern füllt, brät und isst. Was für ein Aufwand, wenn man doch einfach eine Dose Thunfisch aufmachen kann.
Als ich das mal zu Grandpa gesagt habe, hat er nur gekichert und gesagt mój misiacsku , was, wie du vermutlich weißt, auf Polnisch „kleiner Bär“ heißt. Er hat mir erklärt, dass es beim Angeln nicht darum geht, was man aus dem Wasser mitnimmt. Es geht darum, was man der Stille gibt. Oder irgendwie so. Auf Polnisch klang es besser. Das ist übrigens total lustig an Grandpa. Wenn er Englisch spricht, klingt er wie Yoda. Echt! Und mit seinem kahlen Kopf, auf dem nur noch neun Haare oder so wachsen, sieht er auch so aus.
Also versuche ich, nicht zu unruhig herumzurascheln, wenn er mich mit zum Angeln nimmt. Meistens gebe ich mich meinen üblichen Tagträumen hin (ich hab dir schon von ihnen erzählt), in denen ich in eine Stadt ziehe und eine berühmte Schriftstellerin werde und eines Tages eine Lesereise mache und meine Fans in einer langen Schlange in der Buchhandlung stehen, als wäre ich Judy Blume oder R.L. Stine. Und dann schaue ich von dem Buch auf, das ich gerade signiere, und da stehst du, Mom, und siehst genauso aus wie auf den Fotos. Du lächelst und sagst mir, wie stolz du auf mich bist.
Ich frage dich noch nicht einmal, wo du die ganzen Jahre über gewesen oder warum du fortgegangen bist, denn es ist mein Tagtraum und ich weiß, dass es keine gute Entschuldigung oder Erklärung gibt, also kommt das Thema gar nicht erst auf. Wir gehen gemeinsam eine Cherry Coke oder einen Milchshake trinken und danach noch Schuhe kaufen, und alles ist perfekt.
Wenn er angelt, denkt Grandpa auch an dich, aber nicht so wie ich. Er denkt an die Vergangenheit, als du noch seine Tochter warst. Er erzählte mir, dass du das Angeln genauso geliebt hast wie er, und sogar als du groß warst und mich schon hattest, bist du immer noch mit ihm angeln gegangen.
Er hat auch erzählt, dass du abends in der Küche deine eigenen Bleigewichte gemacht hast. Dafür hast du über dem Herd Lötzinn geschmolzen – das einen sehr niedrigen Schmelzpunkt hat, wie ich aus dem Chemieunterricht in der Schule weiß – und ihn in die wie umgedrehte Pyramiden aussehenden Formen gegossen, während im Hintergrund das Radio lief.
Und da habe ich mich erinnert. Zumindest ein bisschen. Okay, vielleicht ist es keine echte Erinnerung, vielleicht denke ich nur, dass ich mich daran erinnere, weil Grandpa mir die Geschichte so oft erzählt hat. Ich bin in der Küche und sitze an dem gescheuerten Kieferntisch, der nach Lysol riecht. Du stehst am Herd und singst das Lied aus dem Radio mit. Ich weiß sogar, welches Lied du singst, denn es ist das
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