Das Geheimnis meiner Mutter
aufgelöst werden konnte, und vor Rourkes Überzeugung floh, dass er Joey im Stich gelassen hatte – dass sie beide Joey im Stich gelassen hatten. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, veränderte die eintönig weiße Landschaft endlich ihr Aussehen. Jenny sah weniger Schnee und mehr Autos. Einkaufszentren und Vorstädte wichen Hochhäusern.
Während sie die wechselnde Szenerie betrachtete, spürte Jenny mit einem Mal das vertraute und verhasste Pochen der Panik in ihrer Brust.
Nein, dachte sie. Das kann nicht sein.
Innerhalb weniger Minuten waren ihre Handflächen schweißnass. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie schloss die Augen und machte die Übung, die Dr. Barrett ihr gezeigt hatte. Sie atmete durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Sie visualisierte einen sicheren Ort, der mit goldenem Licht angefüllt war und an dem nichts und niemand ihr etwas tun konnte. Sie stellte sich eine Welt vor, in der es nur Güte und Liebe gab.
Es funktionierte nicht. Aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. Sie fühlte sich elend und gefangen, und es war ihr kein bisschen peinlich. Sie war eine praktische Person, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. So eine Panikattacke überfiel sie nicht einfach ohne Grund.
Schwankend und taumelnd machte sie sich auf den Weg zum Waschraum. Dort tupfte sie ihre Hände und das Gesicht mit einem feuchten Papierhandtuch ab. Dann schluckte sie eine halbe Xanax und ging zurück an ihren Platz.
Die Wirkung der Tablette setzte ein, wickelte ein weiches Tuch um die harten Ecken der Panik und schenkte ihr eine wunderbare Müdigkeit. Jenny wusste, dass es sich um eine künstliche Verschnaufpause handelte, aber zu diesem Zeitpunkt war ihr alles recht, was ihr ein wenig Ruhe gab.
Sie lehnte sich in den Sitz zurück und schaute auf das große Nichts der Welt dort draußen. Sie versuchte, sich auf die Menschen zu konzentrieren, die sie hier und da hin und her laufen sah, und sich vorzustellen, wie deren Leben wohl aussah. Hatten sie Familien? Lachten sie gemeinsam? Taten einander weh? Kämpften mit Reue?
Aber egal, wie sehr sie auch versuchte, sich abzulenken, ihr Kopf kehrte immer wieder zu einem verrückten Gedanken zurück. Sie hatte gedacht, die Panikattacken wären vorbei, weil sie seit dem Abend in Gregs Haus keine mehr erlebt hatte. Wie ein Dummkopf hatte sie gedacht, die Tage, an denen sie ihr Ausflippen auf einer Skala von eins bis zehn bewertete, wären endgültig vorüber.
Dennoch war die Panik mit unglaublicher Macht wiedergekehrt, und sie musste die Sache neu überdenken.
Vielleicht hatten die Attacken nicht aufgehört, weil sie sich endlich an all die Veränderungen in ihrem Leben gewöhnt hatte. Vielleicht hatten sie vielmehr aufgehört, weil sie mit Rourke zusammen gewesen war.
Was verrückt war, denn sie war ja nicht wirklich mit ihm zusammen . Sogar als er sie am Bahnhof geküsst hatte – oh Gott, er hatte sie geküsst, und sie war beinahe dahingeschmolzen –, war sie nicht mit ihm zusammen gewesen.
Das machte sie noch verrückter als die Panik, die durch ihren Körper tobte. Sie holte ihr Handy heraus und blätterte zu Rourkes Nummer. Ihr Daumen schwebte über dem Wahlknopf. Sie könnte ihn anrufen. Sie musste ihn wegen des Kusses fragen. Aber was?
Schluss damit, befahl sie sich und klappte das Telefon zu. Philip erwartete sie, ein Mann, der verzweifelt ein Vater für sie sein und an ihrem Leben teilnehmen wollte. Darauf sollte sie sich konzentrieren.
Sie konnte ihrer irrationalen Bindung an Rourke McKnight nicht gestatten, sie von dieser Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen, zurückzuhalten. Das hier war ihre Chance, sich zu beweisen. Sie wollte auf eigenen Füßen stehen, erfahren, wer sie außerhalb von Avalon war, außerhalb der Bäckerei und ohne die Leute, die sie als pflichtbewusste Enkelin und verantwortungsvolle Geschäftsfrau kannten, als das Mädchen, das eine tragische Vergangenheit überwunden hatte. Vielleicht lief sie davon, wie Rourke gesagt hatte, aber seit wann war das ein Verbrechen?
20. KAPITEL
G reg Bellamy war leicht geschockt, als Daisy einwilligte, mit ihm Langlaufski zu fahren. Sie und ihr Bruder waren eisenharte Abfahrtsläufer, die
ihren Dad mit seiner Vorliebe für die nordische Variante gerne aufzogen.
„Zu gesund“, spotteten sie. „Und viel zu anstrengend.“
Als er sie also einlud und sie zustimmte, um 6 Uhr aufzustehen, dachte er, er würde Stimmen hören. Und dann erfasste ihn
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