Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
Ritter aus Praunheim, Schweinsberg, Preungesheim, Marburg und Offenbach ihre Höfe führten.
Von Zeit zu Zeit blickte er hinüber zum Kuhhirtenturm. Dort war es vor zwanzig Jahren passiert. Und fast genau hier, am Geländer, hatte er gestanden und mitansehen müssen, wie das führerlose Taxi seine Tochter überrollte. Bis zum Ende hatte sie ihr strahlendes Lächeln beibehalten, als sie ihm zuwinkte, die Gefahr nicht kommen sehend. Sandra, in ihrem hellrosa Baumwollkleidchen. Und dann das viele Blut. So viel Blut in einem so kleinen Körper. Und geschrien hatte er. Geschrien, als könne die Lautstärke das Rad der Geschichte wenigstens um Sekundenbruchteile zurückdrehen. Dem Notarzt waren keine Vorwürfe zu machen, er war sofort da. Fast schien es Esterházy, als habe er nur darauf gewartet und schon mit eingeschaltetem Blaulicht am Deutschherrnufer bereitgestanden. Im Wagen mitgenommen hatten sie ihn nicht. Im Nachhinein hatte er dafür sogar Verständnis, so wie er sich an den leblosen Körper klammerte, ihn nicht hatte loslassen wollen.
Er gab sich keine Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Vor wem hätte er sich auch schämen müssen? Er überlegte, ob er nicht einfach rübergehen, die Pistole zücken und seinem Leben ein Ende bereiten sollte. Auch damit wäre der Kreis geschlossen. Der ewige Kreislauf von Leben und Tod, in den zu unterbrechen Generationen von Wissenschaftlern von jeher all ihre Kraft investierten und immer noch investieren. Ignoranten, die keine Ahnung haben, sagte er sich.
Sie habe nicht gelitten, sei sofort tot gewesen, hatte es später geheißen. Oder wollten sie ihn nur nicht noch zusätzlich quälen? Aber er hatte es dankend übernommen. Wenigstens das. Keine Qualen. Mehr blieb nicht.
Er hätte nicht herkommen dürfen. Eine todesähnliche Müdigkeit breitete sich in Karel Esterházy aus. Er umklammerte die Pistole in seiner Jackentasche. Der Zeigefinger legte sich um den Abzug. Der Weg hinüber war kurz. Ein paar Schritte nur. Damals waren es zu viele Schritte gewesen. Zwei, höchstens drei haben gefehlt und das Schicksal hätte einen anderen Verlauf genommen. Er wartete auf einen Impuls aus seinem Inneren, der nicht kam.
Am Halteplatz in der Dreieichstraße bestieg er ein Taxi und ließ sich zurück in den Goldbergweg bringen.
– Ende der Rückblende –
Wenn man sich Herrn Schweitzer mit seiner neuen ultramodernen Frisur so betrachtete, kam man nicht umhin zu denken, er verbringe seine Arbeitszeit in einer Werbeagentur. Aber wir wollen hier den Herrn Schweitzer nicht weiter verunglimpfen. Der Rest von ihm samt seiner ausgelatschten Treter war immer noch Herr Schweitzer und kein Bürofritze. Die roten Socken am Ende der hellbraunen Cordhose ließen weiterhin auf einen total abgefahrenen Künstler schließen, der sich um gesellschaftliche Konventionen einen feuchten Kehricht scherte.
Zu Hause hatte er sich noch einen kleinen Joint gegönnt. Auf einen Verdauungsschnaps hatte er gänzlich verzichtet. Ein Triumph der Selbstbeherrschung, war seine Deutung. Die Wahrheit war, die letzte Flasche himmlischen Himbeergeistes war schon vor etlichen Wochen zur Neige gegangen.
Herr Schweitzer betrat das Weinfaß mit dem Wissen, nun, da sich die heiße Spur um einen möglichen Mörder Esterházy als maximal lauwarm erwiesen hatte, nichts mehr im Schilde zu führen, was er dem Schmidt-Schmitt hätte beichten können. Höchstens noch die Theorie von einem Auftragskiller, die aber sehr gewagt war.
Zu seiner Überraschung war die Kneipe bis auf den Oberkommissar und dessen neuer Flamme Doris frei von Gästen. „Was ist denn hier los?“
„Nix, siehste doch“, erklärte die alte Wirtin Bertha burschikos. „Wasser? Oder biste runner von dem Trip? Was is mit deiner Jimi Hendrix-Mähne?“
Statt einer Antwort studierte Herr Schweitzer die in der linken Ecke hängende Tafel mit den Weinen der Woche. Dann konterte er Berthas ungehobelten Willkommensgruß: „Einen Weißburgunder, aber fix.“
Bertha begnügte sich, oh Wunder, mit einem Kopfnicken.
Doris Brenn-Scheidler: „Hallo Simon, wie geht’s?“
Der Oberkommissar: „Hock dich her, Amigo. Wie siehst denn du aus?“
Herr Schweitzer tat, wie ihm geheißen. „War beim Friseur.“
„Wäre ich jetzt nicht draufgekommen. Steht was an? Hochzeit? Konfirmation? Ein seriöser Kunde?“
„Babbel net! Es wurde einfach mal wieder Zeit, das ist alles.“
„Aber gleich so viel. Siehst ja aus wie ein Pennäler.“ Der Oberkommissar grinste
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