Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
„Komm, Schorsch, setz dich zu uns.“
Einer einstudierten Routine gehorchend machte sich die Wirtin sofort daran, des Ouzo-Schorschs Spezialgetränk zuzubereiten.
Herr Schweitzer rückte ein wenig beiseite, damit der Neuankömmling auch Platz fand am umgedrehten Weinfaß.
Der Rest des Abends verlief in gewohnten Bahnen. Nach und nach füllte sich die Spelunke. Weizenwetter, Karin, Buddha Semmler und wer sonst noch so Rang und Namen hatte in Sachsenhausen gaben sich ein Stelldichein. Auch der ein oder andere Fremde ließ sich blicken, was aber nicht weiter störte, sofern es den Fremden nicht störte, beim Betreten erstmals gehörig gemustert zu werden. In dieser Beziehung war das Weinfaß fast wie eine Dorfkneipe, nur nicht ganz so extrem. Fremde waren stets willkommen, nur die großkotzigen narzißtischen Wichtigtuer der selbsternannten Sachsenhäuser Upperclass mußten leider draußen bleiben. Ein feines Näschen für solche Gestalten besaß die rustikale Wirtin. ‚Hier, geht uff’s Haus, un wenn de ausgesoffe hast, verzieh dich. Daane neureiche Angebber-Kumpels erwarte dich bereits im La Boheme uff de Schweizer.’ Damit ward bisher einjedem der Wind aus den Segeln genommen. Im Prinzip konnten sie einem nur leid tun, denn auf der anderen Seite des Mains, dort wo die große Welt spielte, blieben ihnen stets die Türen verschlossen, so sehr sie auch dagegenhämmerten und um Einlaß flehten.
Für den weiteren Verlauf des Kriminalfalls Jens Auer nicht ganz unerheblich waren zu später Stunde noch ein paar Einlassungen vom Ouzo-Schorsch; er hatte inzwischen sieben Striche auf dem Deckel. Wörtlich überliefert waren sie nicht, gingen aber in ungefähr so: Der Jesus sei ein Fischer, der Fischer-Joschka Außenminister und Taxifahrer, und der Taxifahrer nun tot am Kuhhirtenturm; wenn da mal nicht der Hase im Pfeffer vergraben liege. ‚Und wenn ihr mich fragt, war der Jesus nebenbei noch Taxifahrer. Wundern würd’s mich jedenfalls nicht, alles paßt prima zusammen.’
Für Herrn Schweitzer, der notgedrungen zugehört hatte, weil Doris und Mischa mal wieder knutschten, ergab das alles, so sehr er sich auch mühte, überhaupt keinen Sinn. Er hatte zwar auch schon einiges intus, aber eine Logik hinter diesen Sätzen war einfach nicht ersichtlich.
Es war dann auch nicht Ouzo-Schorschs kryptisches Gleichnis, was Herrn Schweitzer der Aufklärung näherbrachte, sondern lediglich ein kleines unscheinbares Detail. Doch davon später, wenn’s um die Wurst geht, mehr.
Um 00.37 Uhr erschien unangemeldet Maria von der Heide, um Herrn Schweitzer abzuschleppen, ehe er volltrunken und zu nichts mehr zu gebrauchen war. Doris und Mischa nutzten die Gelegenheit und verabschiedeten sich ebenfalls.
Unmittelbar nach seiner Pflichterfüllung schlief Herr Schweitzer ein. Zuvor streckte ihm ein frecher Osterhase noch kurz die Zunge raus.
– Rückblende –
Wider Erwarten hatte er gut und traumlos geschlafen. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und ging barfuß ins Badezimmer pinkeln.
Danach setzte er die Kaffeemaschine in Gang. Tausend Mal hatte er sich ausgemalt, wie dieser Tag, auf den er zwanzig Jahre gewartet hatte, wohl zu gestalten sei. Als Test spreizte er die Finger seiner linken Hand und hielt sie ausgestreckt von sich. Nein, nervös war er nicht. Er horchte in sich hinein. Sein Herz schlug ganz normal, von Aufregung keine Spur. Irgendwie war er enttäuscht. Er hatte gedacht, Mörder müßten am Tag der Tat vollkommen außer sich sein. War er also ein eiskalter Killer bar jedweder menschlichen Regung? Okay, der Sattler-Mord war wie ein gut geöltes Uhrwerk verlaufen, aber bei Ingolf Decker hatte es schon einige Unregelmäßigkeiten gegeben, die ihm schwer zu schaffen machten, weil er eine Steigerung für heute erwartete. Aber keine seiner Befürchtungen schien zuzutreffen.
Mit der dampfenden Tasse in der Hand zog er die Gardine zurück. Noch warfen die Bäume im Goldbergweg lange Schatten. Die ersten Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit. Im Erdgeschoß des gegenüberliegenden Hauses brannte schon Licht. Erst vor vier Monaten war die Tochter des Lehrerehepaars, die nur wenige Wochen nach Sandras Geburt das Licht der Welt erblickt hatte, zu ihrem Freund nach Gelsenkirchen gezogen. So viel er wußte, wollte Anneliese mit ihrem verspäteten Abitur in Bochum – war es Bochum? – Kunst studieren. Ob Sandra mit ihrem Gebrechen sich auch hätte immatrikulieren können, wenn … Ja, wenn!
Plötzlich und unerwartet
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