Das Geheimnis von Digmore Park
Süden in Richtung Southampton abgebogen, während sich die andere Kutsche auf die Reise in den Norden begab. Das war so weit nachvollziehbar. Allerdings konnte diese Kutsche nicht weit gekommen sein. Irgendetwas war geschehen. Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass sie einer Bande von Straßenräubern zum Opfer gefallen war. Elizabeth erschauerte. Man hörte immer wieder von Diebesbanden, die die Wälder unsicher machten und die Fahrzeuge ahnungsloser Reisender überfielen. Manche der Gauner waren nur auf das Geld aus, andere kannten keinerlei Skrupel, die wehrlosen Insassen gnadenlos niederzumetzeln. Dieses ungnädige Schicksal hatte wohl auch Lady Barbara ereilt. Die Frage war nur, was war mit Paul und Mr. Jennings geschehen? Waren sie ebenfalls den Mördern zum Opfer gefallen? Und falls dies so war, wo waren ihre Leichname? Warum hatte man nur Lady Barbaras sterbliche Überreste gefunden? Konnte es sein, dass der kleine Waldsee so tief war, dass darin noch zwei tote Körper auf dem Grund lagen? Elizabeth setzte sich in ihrem Bett auf. Was für schaurige Gedanken! Jetzt war an Schlaf erst recht nicht mehr zu denken. Wenn Sie sich vorstellte, welcher Gefahr Mama und sie sich durch diese Reise ausgesetzt hatten! Wer sagte denn, dass die Mörder in den Wäldern rund um Digmore Park nicht weiter ihr Unwesen trieben? Natürlich, es gab hier genügend Wachen, die das Haus im Auge behielten. Doch die waren so erpicht darauf, den Sohn des Hausherrn festzusetzen, dass sie sicher nicht darauf achteten, was hinter ihrem Rücken sonst noch vor sich ging. Oder war alles ganz anders abgelaufen? Waren Paul und Mr. Jennings am Ende gar unversehrt geblieben und hatten allein den Weg nach Norden angetreten? Das konnte doch nicht sein, oder? Sie hätten doch nach Digmore Park zurückkehren und seine Lordschaft unterrichten müssen! Es wäre unverantwortlich gewesen, den alten Herrn völlig im Unklaren zu lassen. Was aber, wenn Lady Barbaras Mörder keine gewöhnlichen Straßenräuber waren? Vielleicht gab es hier im Haus einen Diener, der ihr übel mitgespielt hatte? Und wer, bitte, hatte Interesse daran, dass man Dewary des Mordes bezichtigte? Sein Cousin und Erbe Edward, den er selbst in Verdacht hatte? Elizabeth hatte den Mann noch nicht kennengelernt, seine junge Gattin jedenfalls war überaus reizend! Was für einen freundlichen Empfang sie ihnen bereitet hatte! Natürlich war es etwas ungewöhnlich, dass sie hier im Hause die Herrin spielte, obwohl sie das von Rechts wegen nicht war. Allerdings spielte auch sie selbst auf Portland Manor die Herrin, und streng genommen stand ihr diese Aufgabe nicht zu. Was konnte Dewary seinem Cousin vorwerfen? Mr. Bishop hatte herausgefunden, dass nicht er, sondern sein Vater höchstpersönlich den Friedensrichter eingeschaltet hatte. Das war ausgesprochen seltsam. Vor allem deshalb, weil Dewary beteuert hatte, er und sein Vater hätten ein gutes Verhältnis, geprägt von Zuneigung und Vertrauen. Wie kam seine Lordschaft dann bloß dazu, seinen eigenen Sohn einer derart grausamen Tat zu verdächtigen? Und wieso hatte er seinem Sohn nicht die Möglichkeit für ein klärendes Gespräch gegeben? Fragen, nichts als offene Fragen! Über ihren erfolglosen Versuchen, sie zu beantworten, war sie dann doch endlich eingeschlafen.
Das war bereits weit nach Mitternacht gewesen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert und ihr war gar nicht danach, den neuen Tag mit Freude zu begrüßen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die gegen halb zehn fertig angekleidet in ihr Zimmer trat, die Bettvorhänge mit einem Ruck zur Seite schob und fröhlich verkündete: „Auf, auf, meine Liebe. Es ist Zeit für das Frühstück. Wir haben einen Auftrag zu erfüllen.“
Ihre Augen strahlten dabei so abenteuerlustig, dass Elizabeth lächeln musste. So voller Tatendrang hatte sie ihre Mutter schon lange nicht mehr gesehen. Sie setzte sich in ihrem Bett auf, ließ die Füße über die Kante baumeln und reckte und streckte ihre Arme in die Luft. „Guten Morgen, Mama, du bist ja beneidenswert guter Laune!“
Ihre Mutter lächelte. „Natürlich bin ich das, meine liebe Lizzy. Ich genieße jeden Augenblick dieses Abenteuers.“
Elizabeth stand auf. „Was für einen Eindruck hattest du von Lady Bakerfield?“
„Oh, ich fand sie ganz bezaubernd! Nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch mit tadellosen Manieren. Nun beeile dich bitte und lass dich von Molly ankleiden. Ich bin schon so
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