Das Geheimnis von Sittaford
Zimmer?»
«Das schickt sich aber nicht recht für eine junge Dame wie Sie», wandte Mrs Belling ein.
«Er ist mein Vetter», schwindelte Emily, die um alles in der Welt vermeiden wollte, dass Mrs Belling einen schlechten Eindruck von ihr bekam. Und augenblicklich verschwanden die Falten von der Stirn der Wirtin.
«Nun, dann mag es hingehen. Überhaupt wird Mrs Curtis, falls sie es Ihnen nicht behaglich genug machen kann, wohl versuchen, Sie in Sittaford House unterzubringen.»
«Seien Sie nicht böse, dass ich so eine Heulsuse gewesen bin», bat Miss Trefusis.
«Was heißt böse, mein Kind? Es ist gut, dass Sie sich Ihr Leid von der Seele heruntergeweint haben. Wahrscheinlich fühlen Sie sich jetzt viel besser.»
«Ja, viel, viel besser.»
«Über ein herzhaftes Weinen und eine gute Tasse Tee geht nichts in der Welt. Und die werden Sie auch noch trinken, ehe Sie die kalte Fahrt antreten.»
«Nein, danke vielmals. Ich glaube wirklich, ich brauche das nicht.»
«Papperlapapp!» schnitt Mrs Belling ihr das Wort ab und bewegte sich zur Tür. «Bestellen Sie Amalia Curtis einen Gruß von mir, und sie möchte dafür sorgen, dass Sie auch ordentlich zu essen bekommen.»
«Sie sind so gut, Mrs Belling!»
«Und im Übrigen werde ich hier meine Augen und Ohren offenhalten», versicherte die dicke Wirtin. «In einer Gaststube fällt so manches Wörtchen, das die Polizei nie zu hören bekommt, und wenn ich was Wichtiges aufschnappe, werde ich Sie umgehend davon in Kenntnis setzen, Miss. Und keine traurigen Gedanken mehr – über kurz oder lang werden wir Ihren Liebsten schon losgeeist haben.»
«Nun muss ich aber gehen und packen», erklärte Emily, von ihrem Stuhl aufstehend.
«Und ich werde Ihnen den Tee schicken», erwiderte Mrs Belling. Miss Trefusis ging nach oben, packte das Handköfferchen, kühlte ihre Augen mit kaltem Wasser und gebrauchte eine reichliche Menge Puder.
«Schön hast du dich mit dem Geheule zugerichtet!», redete sie ihr eigenes Spiegelbild an. Dann nahm sie noch mehr Puder und legte einen Hauch Rouge auf.
«Merkwürdig, wie viel besser ich mich jetzt fühle! Es ist mit dem schlechten Aussehen nicht zu teuer erkauft.»
Dann schritt sie elastisch zur Klingel, um das Zimmermädchen, die tüchtige Schwägerin von Constable Graves, herbeizurufen. Sie gab ihr eine Pfundnote und bat eindringlich, jede Nachricht, die aus den Kreisen der Polizei den Weg zu ihr finden würde, an Mrs Curtis in Sittaford weiterzuleiten, was das Mädchen bereitwillig versprach. «Sie sind ein Engel!», beteuerte Emily.
«Ach, Miss, ich kann Ihren Kummer ja so nachfühlen. Immer denke ich: Wenn das nun dem Fred passiert wäre…? Vergangene Woche kaufte ich bei Woolworth einen Kriminalroman. Und wissen Sie, wodurch man darin den Mörder entdeckte? Durch ein Stückchen ganz gewöhnlichen Siegellack! Miss, Ihr junger Herr sieht so gut aus, ähnelt ganz und gar nicht den Bildern, die die Zeitungen von ihm bringen. Ach, ich werde alles tun, was ich kann – für Sie, Miss, und für ihn.»
Und als der Mittelpunkt rührseliger Aufmerksamkeit und Fürsorge verließ Emily Trefusis die «Three Crowns», nachdem sie die von Mrs Belling verordnete Tasse Tee erst noch pflichtgemäß hinuntergeschluckt hatte.
«Übrigens sind Sie mein Vetter», sagte sie, als der alte Ford sich knatternd in Bewegung setzte. «Vergessen Sie das bitte nicht.»
«Warum?» erkundigte sich ihr Begleiter etwas erstaunt.
«Man ist hier noch etwas altmodisch prüde, und deshalb schien mir eine Verwandtschaft ratsam.»
«Famos! Dann nenne ich Sie aber besser Emily», erklärte Mr Charles Enderby erfreut.
«Richtig, Vetter – wie heißen Sie denn?»
«Charles.»
«Richtig, Charles.»
Und schon bog das vorsintflutliche Auto auf die Straße nach Sittaford ein.
13
D er erste Eindruck, den Emily von Sittaford erhielt, war sehr günstig; vielleicht trug hierzu auch der Empfang bei, der ihr von Mrs Curtis zuteil wurde.
«Natürlich kann ich Sie beherbergen, Miss, und Ihren Vetter auch, wenn er so lange warten will, bis ich ein paar alte Sommersachen weggeräumt habe», sagte die kleine, grauhaarige, dem Klatsch nicht abholde Frau. «Es wird Ihnen doch wohl nicht unangenehm sein, wenn Sie Ihre Mahlzeiten mit uns gemeinsam einnehmen…? Mein Gott, ja, wer hätte das gedacht? Captain Trevelyan ermordet! Wir sind ja seit Freitag von der Welt abgeschnitten gewesen, und als heute Morgen die Nachricht endlich zu uns gelangte, wurde mir vor Schreck
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