Das Geheimnis von Sittaford
ganz schwach. Der Tod des Captain zeigt dir – sagte ich zu Curtis – die Gottlosigkeit, die heutzutage in der Welt herrscht. Aber warum bleiben wir denn hier auf dem Korridor stehen? Kommen Sie, Miss, und der Herr bitte auch. Das Wasser kocht gerade, so dass Sie gleich eine Tasse Tee zum Auftauen kriegen werden. Zwei und stellenweise drei Meter hoch hat der Schnee hier oben bei uns gelegen.»
Halb betäubt von diesem Wortschwall sahen sich die beiden ihre neuen Quartiere an. Emily bekam ein kleines Vorderzimmer zugewiesen, peinlich sauber, dessen Fenster auf den Feldweg hinausgingen, während Enderbys schmales Gelass, mit einem Bett, einer Zwerg-Kommode und einem eisernen Waschständer ausgestattet, nach hinten raus lag.
«Die Hauptsache ist, dass wir hier glücklich gelandet sind», bemerkte Charles Enderby, als der Chauffeur den Koffer abgestellt hatte und entlohnt worden war. «Und wenn wir innerhalb der nächsten Viertelstunde nicht über sämtliche weiblichen und männlichen Einwohner von Sittaford Bescheid wissen, will ich meinen Filzhut als Nachtmahl verspeisen.»
Zehn Minuten später saßen sie unten in der behaglichen Küche und wurden mit starkem Tee, Brot und Butter nebst hartgekochten Eiern gelabt. Mr Curtis war im Gegensatz zu seiner Gattin ein wortkarger Mensch – entweder wortkarg geboren oder wortkarg geworden, weil er eingesehen hatte, dass er der Redegewandtheit Amalias doch nicht gewachsen war. Auch bei dieser Mahlzeit bestritt vor allem sie die Unterhaltung. Zuerst erzählte sie von Miss Percehouse, die den Bungalow Nr. 4 bewohnte und vor sechs Jahren nach Sittaford gekommen sei, um in Ruhe zu sterben.
«Aber ob Sie es nun glauben oder nicht, Miss, die Luft hier ist so heilkräftig, dass die alte Jungfer vom ersten Tag an wiederauflebte. Eine unvergleichliche Luft für die Lunge! Miss Percehouse», fuhr sie nach diesem Lob der Gegend fort, «hat einen Neffen, der sie gelegentlich besucht und auch jetzt bei ihr ist. Er ist ängstlich darum besorgt, dass das Geld in der Familie bleibt. Sehr stumpfsinnig hier um diese Jahreszeit für einen jungen, lebensfrohen Herrn. Ein Glück, dass die junge Dame in Sittaford House da ist und sie sich gegenseitig die Langeweile vertreiben können. Armes Ding, das wegen einer Laune ihrer Mutter den Winter in dem Riesenkasten verbringen muss, ohne gleichaltrige Freundinnen! Ja, die Selbstsucht steht bei manchen Müttern obenan. Übrigens eine sehr hübsche junge Dame. Und Mr Ronald Garfield ist so oft in Sittaford House, wie es der Gesundheitszustand seiner Tante gestattet.»
Charles Enderby und Emily tauschten einen raschen Blick, denn Charles erinnerte sich, dass sich Ronald Garfield als Mrs Willetts Gast an dem verhängnisvollen Tischrücken beteiligt hatte.
«Das Häuschen Nr. 6, dem meinen benachbart, hat erst vor kurzem einen Interessenten gefunden», nahm Mrs Curtis’ Erzählung ihren Fortgang. «Duke heißt der Gentleman. Aber ob er wirklich ein Gentleman ist? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Man weiß nicht so recht, was man von ihm halten soll. Ein wenig ähnelt er in seinem Auftreten einem ehemaligen Offizier, aber nicht etwa so wie Major Burnaby, bei dem man auf den Ersten Blick den alten Soldaten erkennt.
Nr. 3 wird von Mr Rycroft bewohnt, einem kleinen, älteren Herrn. Man sagt, dass er früher für das Britische Museum aus dem Ausland Vögel besorgt habe. Ein Naturwissenschaftler, verstehen Sie. Und wenn es das Wetter nur irgend erlaubt, durchstreift er das Moor. Und Bücher, Bücher…! Sein Häuschen ist beinahe ein einziger Bücherschrank!
Nr. 2 ist Eigentum eines Kriegsinvaliden – Captain Wyatt, der einen indischen Diener bei sich hat. Wie der Ärmste hier friert! Den Diener meine ich natürlich, nicht den Captain. Kein Wunder, wenn man aus einem so heißen Land kommt! Bei der Backofenhitze, die in Captain Wyatts Haus herrscht, würden Sie einen Schlag kriegen, Miss.
Nr. 1 bewohnt Major Burnaby, ganz allein, und ich gehe am frühen Morgen zu ihm hinüber, räume auf und besorge alles Nötige. Zwischen ihm und Captain Trevelyan herrschte eine dicke Freundschaft. Schon seit vielen, vielen Jahren. Und beide haben an ihren Zimmerwänden fremdländische Geweihe und Tierköpfe hängen.
Was aber Mrs Willett und ihre Tochter betrifft – na, auf die kann man sich überhaupt keinen richtigen Vers machen. Viel Geld, Miss! Arnos Parker in Exhampton, von dem sie ihre Waren beziehen, sagte mir, dass sich ihre Wochenrechnung immer auf acht
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