Das Geheimnis
erkannte in ihr kaum noch die gezierte Matrone wieder, die er vor zwei Tagen kennen gelernt hatte. Die Wangen gerötet, das Kinn blutüberströmt, den Mund vor Hass verzerrt, sodass die Zahnlücken zu sehen waren, sah sie wie eine Wahnsinnige aus. Und Reikos Leben hing davon ab, dass Sano vernünftig mit dieser Frau redete …
» Sôsakan-sama, meine Gemahlin ist kein schlechter Mensch«, beteuerte Fürst Miyagi. »Aber Konkubine Harume war ein verdorbenes Weib! Sie hat mich erpresst. Meine Gemahlin will mich nur schützen.«
Sano sagte zur Fürstin: »Wenn Ihr Reiko loslasst, werde ich den Shôgun bitten, die besonderen Umstände dieses Falles zu berücksichtigen und eine weniger schwere Bestrafung für Euch empfehlen.« Alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, sich für eine mehrfache Mörderin einzusetzen, aber er hätte alles versprochen, alles getan, um Reiko zu retten. »Geht vom Abgrund weg … Kommt zu mir. Dann reden wir über alles.«
Fürstin Miyagi rührte sich nicht. Sano bemerkte, dass Reiko die Kehle eng wurde, dass sie immer schneller und keuchender atmete, und dass ihre Augen starr wurden. »Bleib ruhig, Reiko«, rief er ihr zu, denn er hatte Angst, sie könnte vor Entsetzen sterben. »Alles wird gut.«
»Hör auf den sôsakan-sama!«, beschwor Fürst Miyagi seine Frau. »Er kann uns helfen.«
Doch der Blick aus den blutunterlaufenen Augen der Fürstin ging durch Sano hindurch, als würde er gar nicht existieren, und richtete sich auf ihren Gemahl. »Ja, Harume war ein schlechter Mensch«, sagte sie mit fester Stimme und tiefem Ernst. Die Worte schienen aus einem düsteren, geheimen Ort in ihrem Inneren zu kommen. »Sie besaß die Dreistigkeit, dein Kind zu empfangen.«
»Mein … Kind?«, fragte Fürst Miyagi völlig verwirrt. »Was redest du da?«
»Das Kind, das Harume im Leibe trug, als sie getötet wurde«, erwiderte die Fürstin. »Ich habe Harume am Tempel des Awashima Myôjin gesehen.« Diese Shinto-Göttin war die Schutzpatronin der Frauen. »Sie hat am Altar geopfert, auf dass sie ihr Kind gesund zu Welt bringt. Doch ich habe die Tusche vergiftet, um beide zu töten – Mutter und Kind!«
»Aber ich habe Harume niemals angerührt!« Der daimyo kroch an Sano vorbei und kniete vor seiner Gemahlin nieder. »Du weißt doch, was mit mir ist, Cousine. Wie kannst du da auf den Gedanken kommen, ich hätte ein Kind gezeugt?«
»Wenn du es nicht warst, wer dann?«, erwiderte die Fürstin mit scharfer Stimme. »Gewiss nicht der Shôgun dieser impotente Schwächling.« Sie starrte auf ihren Gatten hinunter und ließ den Arm mit der Waffe sinken. »All die Jahre habe ich deine Affären mit anderen Frauen geduldet und mich niemals beklagt, weil ich sicher war, dass du sie nicht anrührst, weil du nicht mit ihnen schlafen kannst. Ich war von deiner Ehrlichkeit überzeugt.«
Sano behielt Fürstin Miyagi, den Dolch und Reiko im Auge und bewegte sich ganz langsam auf die beiden Frauen zu, wobei er Reiko eine stumme Botschaft sandte: Nur noch einen Augenblick, und du bist in Sicherheit!
»Ich hielt uns für Geliebte im Geiste. Auf ewig verbunden so wie die Schwäne in unserem Familienwappen. Ich hielt uns für ein Paar, das alles teilt!« Die blutigen Lippen der Fürstin zitterten, und Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Aber jetzt weiß ich es besser. Du hast dich davongeschlichen und mit Konkubine Harume geschlafen, ohne es mir zu sagen. Du hast mich betrogen!«
»Aber, Cousine, ich habe niemals …«
»Ich weiß, wie sehr du dir einen Sohn wünschst. Ich durfte nicht zulassen, dass Harumes Kind geboren wird. Denn das hätte dich ermutigt, mit einer deiner Konkubinen ein weiteres Kind zu zeugen. Dann wäre sie deine neue Gemahlin geworden, und das Kind dein Erbe. Du hättest mich fallen lassen. Und wie hätte ich ohne deinen Schutz überleben sollen?«
Endlich erkannte Sano den wahren Grund für die Ermordung Harumes. Ein Missverständnis, ein Irrglaube hatte glühende Eifersucht entfacht. Nicht die Mutter, sondern das ungeborene Kind war Ziel des Giftanschlags gewesen. Langsam und vorsichtig näherte Sano sich Reiko und Fürstin Miyagi.
»Du hast Zaunkönig und Schneeflocke ermordet, damit ich keine Söhne von ihnen bekommen kann?« Fassungslos schüttelte der Fürst den Kopf. »Aber warum hast du diesen Kräuterhändler getötet?«
Die mit Tränen gefüllten Augen der Fürstin funkelten entschlossen. »Ich habe ihn getötet, weil ich das Gift bei ihm gekauft hatte. Er durfte
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