Das Geheimnis
Gang war leer. Harume presste die Hände auf die Kehle und taumelte in die Richtung, in der sie ferne, verzerrte Stimmen vernahm. Die Deckenlaternen kamen ihr hell wie Sonnen vor und blendeten sie. Sie streckte die Arme aus, suchte an den Wänden Halt. Durch einen Nebel aus Schwindel und Übelkeit sah Harume geflügelte schwarze Schemen, die sie verfolgten. Krallen zerrten an ihrem Haar, und schrille Schreie gellten ihr in den Ohren. Dämonen!
Die Diener schenkten nun auch Sanos Mutter und Magistrat Ueda Reisschnaps ein, um die frisch geknüpften Bande zwischen den beiden Familien zu bekräftigen; dann reichten sie auch den Gästen Schalen mit Sake. » Omedetô gozaimasu – wir gratulieren!«, klang es durch den Saal.
Sano schaute in glückliche Gesichter, die ihm und Reiko zugewandt waren. Der liebevolle Blick seiner Mutter wärmte ihm das Herz. Hirata, sein oberster Gefolgsmann, strahlte übers ganze Gesicht, während Magistrat Ueda dem Brautpaar würdevoll und beifällig zunickte. Der Shôgun grinste.
Sano nahm die Heiratsurkunde vom Tisch vor ihnen und las mit bewegter Stimme: »Nun sind wir in alle Ewigkeit vereint als Mann und Frau. Wir schwören, unsere ehelichen Pflichten getreu zu erfüllen und alle Tage unseres Lebens in unverbrüchlichem gegenseitigem Vertrauen und Liebe zu verbringen. Sano Ichirō, am 20. Tag des neunten Monats im Jahre Drei der Genroku-Ära.«
Dann las Reiko den gleich lautenden Text ihrer Urkunde vor. Ihre Stimme war fest, klar und melodisch. Sano hörte sie zum ersten Mal. Worüber werden wir uns heute Abend unterhalten, wenn wir allein sind?, fragte er sich.
Die Diener reichten Sano und Reiko Zweige des Saka-Baumes, an denen weiße Papierstreifen befestigt waren, und führten das Paar dann zu der Wandnische, wo es den Göttern die bei einer Eheschließung üblichen traditionellen Opfergaben darbrachte. Die kleine, zierliche Reiko reichte Sano kaum bis zu den Schultern. Der lange Saum ihres Kleides schleifte über den Boden. Beide verbeugten sich und legten die Zweige auf den Altar. Dann verneigten die Diener sich zweimal vor dem kleinen Heiligtum und klatschten zweimal in die Hände. Die Versammelten taten es ihnen gleich.
»Die Zeremonie ist hiermit abgeschlossen«, verkündete der Priester, der den Saal rituell gereinigt und die Anrufung der Glücksgötter vollzogen hatte. »Mögen Braut und Bräutigam sich nun ein harmonisches Heim einrichten.«
Von den Dämonen verfolgt, fand Harume trotz ihrer panischen Flucht den Weg durch die gewundenen Gänge und Flure der Frauengemächer, bis sie zu der Tür gelangte, die aus dem Inneren Schloss in den Hauptpalast führte. Dort standen Gruppen von Hofdamen in ihren kostbaren bunten Kimonos, umgeben von Dienerinnen und Wachposten. Harume verließ die Kraft. Sie stürzte zu Boden und blieb dort hustend, zitternd und nach Atem ringend liegen.
Seidene Kleider raschelten, als die Menge sich ihr zuwandte. Dann riefen aufgeregte Stimmen: »Es ist Konkubine Harume!« – »Was ist mit ihr?« – »Seht nur, ihr Mund ist voller Blut!«
Augenblicke später sah Harume entsetzte, verängstigte Gesichter über sich; doch hässliche blutrote Flecke verwehrten ihr die Sicht auf die vertrauten Züge der Hofdamen. Dann veränderten die Gesichter sich plötzlich: Die Augen loderten gelb; die Münder, in denen Reißzähne blitzten, verzogen sich zu einem scheußlichen Grinsen; die Nasen wuchsen in die Länge, und aus den Schultern sprossen schwarze Flügel und fächelten die Luft. Seidene Kimonos verwandelten sich in die gespenstischen Federkleider monströser Vögel, und scharfe Krallen griffen nach Harume.
»Dämonen!«, stieß sie hervor. »Kommt mir nicht näher. Nein! «
Kräftige Hände packten Harume. Barsche Männerstimmen brüllten Befehle. »Sie ist krank. Holt einen Arzt.« – »Sorgt dafür, dass wegen ihr nicht die Hochzeitsfeier des sôsakan-sama gestört wird!« – »Bringt sie in ihr Gemach …«
Panische Angst ließ ein letztes Mal Kraft in Harumes Muskeln strömen. Während sie mit den Beinen trat, um sich schlug und nach Atem rang, brach es mit schriller Stimme aus ihr hervor: »Zu Hilfe! Dämonen! Lasst nicht zu, dass sie mich töten!«
»Sie hat den Verstand verloren. Macht Platz – aus dem Weg! Und gebt Acht! Sie ist gewalttätig!«
Harume wurde den Flur hinuntergetragen, gefolgt von einer kreischenden, flügelschlagenden Meute. Verzweifelt versuchte das Mädchen, sich aus dem Griff ihrer Häscher zu winden.
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