Das Geheimnis
Schließlich ließen die Entführer sie wieder herunter, drückten sie mit dem Rücken an eine Wand und hielten ihre Arme und Beine fest. Harume war gefangen, hilflos, ausgeliefert. Die Dämonen würden sie in Stücke reißen, ihr Fleisch verschlingen …
Noch während Harume dieser entsetzliche Gedanke durchfuhr, ballte sich in ihrem Inneren eine noch beängstigendere, zerstörerische Kraft zusammen. Ein schrecklicher Schüttelkrampf durchlief ihren Körper, erfasste jedes Glied, jeden Muskel, bis in die feinsten Nervenbahnen; ihre Sehnen waren bis zum Zerreißen gespannt, und unsichtbare, straffe Ketten legten sich um ihren Oberkörper. Harume schrie vor Schmerz, als ihr Rücken von einer gewaltigen Kraft durchgebogen wurde und ihre von Krämpfen geplagten Glieder so heftig zuckten, dass die Dämonen zur Seite geschleudert wurden, wobei sie ein wütendes, schauriges Geheul ausstießen. Eine zweite, noch heftigere Zuckung schüttelte Harumes Körper; dann senkte Schwärze sich wie ein Vorhang vor ihr Sichtfeld. Harumes Sinne wurden schwächer und schwächer. Sie konnte die dämonischen Geschöpfe nicht mehr sehen, nicht mehr hören; sie vernahm nur noch das heftige, unregelmäßige Pochen ihres eigenen Herzens. Noch einmal zuckte ihr Körper wie nach einem Peitschenhieb. Obwohl ihr Mund weit aufgerissen war, bekam sie plötzlich keine Luft mehr. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Geliebten. Sie wusste, dass sie ihn in diesem Leben nicht mehr sehen würde, und diese Erkenntnis erfüllte sie mit einer tiefen Trauer, die fast so stark war wie ihr körperlicher Schmerz und die Todesqualen. Ein letztes Mal schnappte Harume keuchend nach Luft. Ein letztes stummes Flehen:
Hilfe …
Dann das Nichts.
Sano hörte kaum die gemurmelten Segenswünsche der Versammelten, weil die Diener seiner Frau nun den weißen Schleier vom Kopf nahmen. Dann wandte sie sich ihrem Mann zu …
Reiko sah jünger aus als die 20 Jahre, die sie zählte. Sie besaß ein makelloses ovales Gesicht mit hoher Stirn und anmutig geschwungenen, gemalten Brauen. Nase und Kinn waren zart und klein, und ihre jettschwarzen Augen strahlten vor Reinheit und Unschuld. Weißes Reispuder bedeckte ihre glatte, makellose Haut und hob sie so deutlich von der Schwärze ihres seidigen, in der Mitte gescheitelten langen Haars ab, das ihr bis weit über die Taille reichte. Ihre Schönheit raubte Sano den Atem. Dann legte sich ein kaum merkliches schüchternes Lächeln auf Reikos blutrote Lippen, bevor sie verschämt den Blick senkte. Als Sano das Lächeln erwiderte, brach eine Flut der unterschiedlichsten Gefühle über ihn herein: Stolz und Freude, Begierde und Zärtlichkeit. Diese Frau verkörperte alles, was er sich je erträumt hatte. Ihr gemeinsames Leben, das nach dem Ende der öffentlichen Feierlichkeiten seinen Anfang nahm, würde ein Fest der Glückseligkeit sein.
Als die Diener Reiko und Sano vom Altar zu ihren Familien geleiteten, erhoben sich die Versammelten. Sano verbeugte sich vor Magistrat Ueda und dankte ihm für die Ehre, seiner hoch geachteten Familie beitreten zu dürfen. Reiko bedankte sich bei Sanos Mutter auf die gleiche Weise. Schließlich dankten beide dem Shôgun, Sanos oberstem Herrn, dass er bei der Hochzeit die Schirmherrschaft übernommen hatte, und sagten auch den Gästen Dank für ihr Kommen. Nach weiteren Glück- und Segenswünschen, Gratulationen und Dankesbekundungen zog die gesamte Hochzeitsgesellschaft angeführt vom Shôgun durch die reich geschnitzten Türen und den breiten Gang zur Banketthalle hinunter, in der das Hochzeitsmahl stattfinden sollte und wo weitere Gäste warteten.
Plötzlich ertönten irgendwo aus dem Inneren des Palasts laute, schrille Schreie, gefolgt vom Geräusch schneller Schritte. Der Shôgun blieb stehen, und mit ihm der ganze Hochzeitszug.
»Was waren das für Laute?«, fragte er, und sein aristokratisches Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Er wandte sich an die Beamten. »Stellt fest, woher diese … äh, störenden Geräusche kommen und sorgt dafür, dass wieder Ruhe …«
Plötzlich erschienen Dutzende entsetzt kreischende Frauen und rannten über den Flur auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Einige Damen trugen seidene Umhänge in leuchtend bunten Farben, andere die schmucklosen Baumwollkimonos der Dienerinnen. Alle drückten sich die Ärmel vor die Nasen und Münder, und ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Palastbeamte eilten ihnen nach, riefen Befehle und versuchten, die Ordnung
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