Das Geheimnis
Reiko von ihrem Vater und dessen Dienern aus dem Gebäude geführt wurde; der Saum ihres weißen Brautgewands schleifte hinter ihr her. Bei diesem Anblick empfand Sano einen heißen Zorn auf den Shôgun, der sein Versprechen nicht eingehalten hatte; es schmerzte ihn, die öffentlichen Hochzeitsfeiern und den Urlaub mit Reiko aufschieben zu müssen. Hatte er nicht ein bisschen Frieden und Glück verdient? Sano unterdrückte ein Seufzen. Die höchste Tugend eines Samurai war die Treue seinem Herrn gegenüber. Die Pflicht hatte stets Vorrang. Und wieder forderte ein rätselhafter Todesfall Sanos uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Das eheliche Glück musste warten.
2.
D
ie Frauengemächer im Palast zu Edo nahmen einen abgeschlossenen Bereich im Hauptgebäude ein, den man das Innere Schloss nannte. Der Weg dorthin führte Sano und Hirata durch die äußeren, öffentlichen Bereiche der Palastanlage, an Audienzhallen vorüber und gewundene Gänge entlang. Die übliche rege Geschäftigkeit war einer Unheil verkündenden Stille gewichen. In dichten Gruppen standen Beamte beisammen und unterhielten sich mit flüsternden, verängstigten Stimmen, nachdem die schockierende Nachricht vom Tod der Konkubine sich verbreitet hatte. Bewaffnete Wachen patrouillierten in den Gängen, um einem möglichen Aufruhr vorzubeugen. Die gewaltige bürokratische Maschinerie der Tokugawas war zum Stillstand gekommen. Sano hoffte, dass Harumes Erkrankung sich als Einzelfall erwies, denn er wusste, welch ernste Auswirkungen eine Epidemie in der Hauptstadt Edo auf ganz Japan haben konnte.
Eine massive Eichentür, eisenbeschlagen und mit geschnitzten Blumen verziert, markierte den Eingang zu den Frauengemächern; hier wohnten die Gemahlin des Shôguns, seine Mutter, seine Konkubinen, deren Dienerinnen, die Palastköchinnen, die Hausmädchen und andere weibliche Bedienstete. Zwei Posten bewachten die Tür.
Sano stellte sich und Hirata vor. »Wir kommen auf Befehl des Shôguns, um Nachforschungen über den Tod der ehrenwerten Harume anzustellen«, erklärte er.
Die Wachposten verbeugten sich, öffneten die Tür und ließen Sano und seinen Gefolgsmann in einen schmalen, von Laternen beleuchteten Flur. Mit einem leisen, dumpfen Laut fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
»Hier bin ich noch nie gewesen«, sagte Hirata mit vor Ehrfurcht gesenkter Stimme. »Ihr, sôsakan?«
»Nein«, antwortete Sano, der Furcht und Neugier zugleich verspürte.
»Kennt Ihr jemanden im Inneren Schloss?«
In seiner Eigenschaft als sôsakan des Shôguns hatte Sano ungehinderten Zugang zu nahezu sämtlichen Bereichen des Palasts. Er kannte die Gärten auf dem Palastgelände, das kleine Waldstück, die Gassen und die Wege, die Nebengebäude, den Hauptturm, den Tempel mit dem Ahnenschrein des Shôguns, den Platz für die Kampf- und Waffenübungen der Wachmannschaften, das Beamtenviertel, in dem auch seine eigene Villa stand, die äußeren Bereiche des riesigen Palastgeländes, sogar die Privatgemächer des Shôguns. Doch wie allen anderen Männern war auch Sano der Zutritt zu den Frauengemächern unter normalen Umständen verboten; nur wenige ausgewählte Wachposten, Ärzte und Beamte durften sie betreten. Sano zählte nicht dazu.
»Ich kenne mehrere Diener und einige Beamte von Ansehen«, antwortete er auf Hiratas Frage, »und einmal habe ich einen Trupp Soldaten geführt, der die Mutter des Shôguns und mehrere Konkubinen auf einer Pilgerreise zum Zôjô-Tempel eskortiert hat. Aber es hat nie zu meinen Pflichten gehört, direkten Kontakt zu einem Bewohner des Inneren Schlosses zu pflegen.«
Sano überkam plötzlich das beunruhigende Gefühl, in unbekanntes, fremdes Territorium vorzudringen. »Also, dann lass uns anfangen«, sagte er. Nur mit Mühe gelang es ihm, Zuversicht in seine Stimme zu legen, denn wieder dachte er mit Bedauern an die aufgeschobene Hochzeitsfeier und den Urlaub. Wie viel Zeit würde noch vergehen, bis er endlich mit Reiko allein sein konnte?
Sano schritt aus und ging den Flur hinunter. Der gebohnerte Fußboden aus Zypressenholz glänzte; verschwommen und verzerrt spiegelte er Sanos und Hiratas Gestalten wider. Gemalte Blumen zierten die Kassettendecke. Einige Zimmer standen offen; die beiden Männer sahen Truhen, Vitrinen, Wandschirme, Holzkohleöfen, achtlos hingeworfene Kleidungsstücke, Spiegel und Frisierkommoden, auf denen Kämme, Haarnadeln und Fläschchen mit Duftwassern unordentlich verstreut waren. Verblasste Wandgemälde zierten die
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