Das Geheimnis
über die Frauen ärgerte. Wenn ein Mann einen Mordfall untersuchte, wurde es als harte Arbeit betrachtet, als Beruf und Broterwerb. Eine Frau hingegen konnte den gleichen Beruf nur »spielen«. Ohne groß darüber nachzudenken, bemerkte Reiko: »Es muss wundervoll sein, Cousine Eri, eine Anstellung im Palast zu haben, so wie Ihr. Seid Ihr eigentlich froh, Beamtin geworden zu sein, anstatt zu heiraten?«
Eris Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, aus dem liebevolle Zuneigung für ihre offenbar noch unerfahrene, naive Cousine sprach. »Ja, ich bin froh darüber. Ich habe zu viele Ehen gesehen, in denen die Partner leiden müssen. Ich genieße meine bescheidene Machtstellung, Reiko-chan, aber ich weiß auch, dass ich sie erworben habe, indem ich Männern gefällig war, und dass ich auch jetzt unter der Vorherrschaft von Männern lebe. Im Grunde bin ich nicht freier als Ihr, die Ihr Eurem Gatten dienen müsst.«
Diese bedrückende Tatsache überzeugte Reiko nur noch mehr davon, dass sie ihren eigenen Weg durchs Leben finden musste. Ein plötzlicher, sorgenvoller Ausdruck auf Eris Gesicht riss Reiko aus ihren Gedanken.
»Was ist?«, fragte sie.
»Mir ist da gerade etwas eingefallen«, sagte Eri. »Vor ungefähr drei Monaten bekam Harume mitten in der Nacht schreckliche Bauchschmerzen. Ich gab ihr ein Brechmittel und anschließend etwas zur Beruhigung, damit sie schlafen konnte. Ich dachte, ihr wäre irgendeine Speise nicht bekommen. Am Morgen ging es Harume schon wieder viel besser; deshalb hielt ich die Sache für harmlos und habe Dr. Kitano nichts davon gesagt. Dann aber, als Harume einige Zeit später über eine belebte Straße im Stadtviertel Asakusa ging, kam wie aus dem Nichts ein Dolch geflogen und hätte sie fast getroffen. Es war am Tag der 46.000«, fügte Eri hinzu und bezog sich damit auf ein beliebtes Tempelfest. »Niemand weiß, wer den Dolch geworfen hat. Ich hätte nie gedacht, dass die beiden Vorfälle etwas miteinander zu tun haben könnten, aber jetzt …«
Reiko wusste, was Eri meinte. Bei heißem Sommerwetter kam es wegen verdorbener Speisen mitunter zu Fällen von Übelkeit. Und was den Dolch betraf, so geschah es hin und wieder, dass unschuldige Fußgänger durch Waffen verletzt wurden, wenn rivalisierende Verbrecherbanden oder verfeindete Samurai sich aus dem Hinterhalt bekämpften. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Harume am gestrigen Tag einem Mord zum Opfer gefallen war, erschienen diese Vorfälle nun in einem ganz anderen Licht.
»Sieht so aus, als hätte jemand schon früher versucht, Harume zu ermorden«, sagte Reiko.
Aber wer? Konkubine Ichiteru? Leutnant Kushida? Oder eine andere, noch unbekannte Person?
13.
N
achdem er das Puppentheater Satsuma-za verlassen hatte, ritt Hirata ziellos durch die Stadt. Stunden verrannen, in denen der junge Mann noch einmal jeden einzelnen Augenblick durchlebte, den er mit der Frau verbracht hatte, die er begehrte, aber niemals haben konnte. Konkubine Ichiteru ging Hirata nicht mehr aus dem Kopf.
Schließlich aber verebbte seine körperliche Erregung so weit, dass er wieder wusste, was er tat. Scham stieg in ihm auf. Statt sich mit den Ermittlungen zu beschäftigen, hatte er den ganzen Morgen mit sinnlosen Tagträumen verschwendet. Unbewusst war er dabei zu seiner alten Wirkungsstätte geritten, zum Polizeihauptquartier, das sich im südlichsten Verwaltungsbezirk von Edo befand. Als Hirata die vertrauten hohen Steinmauern und die Ströme der doshin, der Gefangenen und der Beamten sah, die sich durch die bewachten Tore bewegten, nahm sein Verstand langsam wieder die Arbeit auf. Was für ein Narr er doch gewesen war!
Konkubine Ichiteru war all seinen Fragen ausgewichen. Wie sollte er Sano jetzt erklären, warum er nicht hatte herausfinden können, ob Ichiteru ein Motiv für den Mord an Harume gehabt hatte – und die Gelegenheit, einen Mordplan in die Tat umzusetzen? Er hatte bei der wichtigen Vernehmung einer Hauptverdächtigen versagt. Hirata konnte allenfalls vorbringen, dass Ichiteru den Verdacht gegen sie erhärtet hatte, indem sie seinen Fragen ausgewichen war und ihn berührt und erregt hatte, um ihn abzulenken – und eine Frau ihrer gesellschaftlichen Klasse würde sich niemals mit einem Mann wie ihm auf solch eine Weise abgeben, es sei denn aus Eigennutz.
Doch nicht einmal diese Einsicht konnte etwas daran ändern, dass Hirata die Konkubine noch immer begehrte und hoffte, sie möge unschuldig sein – und dass sie vielleicht doch
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