Das Geheimnis
Interesse an ihm zeigte. Obwohl er ein neuerliches Versagen fürchtete, eine weitere Demütigung, sehnte Hirata sich danach, Ichiteru wiederzusehen. Sollte er zurück zum Theater reiten und klare Antworten von ihr verlangen? Heiß strömte das Blut in Hiratas Lenden, als er daran dachte, wieder mit Ichiteru zusammen zu sein und zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatten. Doch widerwillig rang er sich zu der Einsicht durch, dass er gar nicht in der Verfassung war, eine unvoreingenommene Befragung Ichiterus vorzunehmen. Erst musste er wieder Herr über seine Gefühle werden. Außerdem gab es noch andere Spuren, die es zu verfolgen galt.
Hirata erreichte sein Ziel und ritt auf das Gelände der Polizeizentrale. Nachdem er das Pferd bei einem Stallburschen in Obhut gegeben hatte, überquerte er den von Kasernen gesäumten Hof, in denen er einst als doshin gewohnt hatte. Dann betrat er das Hauptgebäude, einen weitläufigen Holzbau. In der Eingangshalle meldeten Beamte sich zum Dienst an oder ab, schrieben Berichte oder zerrten verhaftete Verbrecher in die Verhörzimmer. Auf einer erhöhten Plattform nahmen vier Schreiber Protokolle entgegen, gaben Einsatzbefehle aus oder kümmerten sich um Besucher.
»Guten Tag, Uchida-san«, begrüßte Hirata den obersten Schreiber.
Uchida, ein älterer Mann mit fröhlichem Gesicht, begrüßte Hirata mit einem Lächeln. »Na so was, wer gibt uns denn da die Ehre?« Die Polizeizentrale war immer schon eine Sammelstelle neuester Gerüchte gewesen und hatte sich viele Male als wertvolle Informationsquelle erwiesen. »Wie ist das Leben im Palast zu Edo?«
Nachdem die beiden Männer Höflichkeiten ausgetauscht hatten, nannte Hirata den Grund für sein Kommen. »Gibt es irgendwelche Meldungen über einen reisenden Händler, einen älteren Mann, der Kräuter und seltene Drogen verkauft?«
»Nichts Offizielles, aber ich habe Gerüchte gehört, die Euch vielleicht interessieren könnten. Einige Jugendliche aus wohlhabenden Familien in den Stadtvierteln Suruga, Ginza und Asakusa sind angeblich in den Besitz eines Mittels gelangt, das einen traumähnlichen Zustand bewirkt und …«, er beugte sich vor, »… den Genuss beim Geschlechtsakt steigert. Aber weil kein Gesetz dies untersagt und diejenigen, die das Mittel benutzen, weder sich selbst noch anderen schaden, hat die Polizei bislang noch niemanden verhaftet. Der Händler ist den Meldungen zufolge ein Mann mit langem weißem Haar, doch seinen Namen kennt man nicht.« Uchida kicherte. »Ich glaube, die doshin suchen ihn vor allem deshalb, weil sie etwas von seinem Mittel haben wollen, um es selbst auszuprobieren.«
»Ein Mann, der Liebestränke unter die Leute bringt, verkauft vielleicht auch Gifte«, sagte Hirata. »Jedenfalls hört es sich so an, als könnte er derjenige sein, den ich suche. Lasst es mich wissen, falls Ihr erfahren solltet, wo er sich aufhält.«
»Mit Vergnügen – falls Ihr mich Euren wichtigen Freunden empfehlt, wenn diese wieder mal Beförderungen verteilen.« Uchida zwinkerte fröhlich Hirata zu.
Hirata verließ die Polizeizentrale, schwang sich auf sein Pferd, nachdem er durchs Tor war – und musste sofort wieder an Konkubine Ichiteru denken. Doch er zwang sich dazu, sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben zu konzentrieren. Suruga, Ginza und Asakusa lagen räumlich weit voneinander entfernt; offenbar zog der namenlose Drogenhändler durch ganz Edo und hatte die Stadt inzwischen vielleicht schon verlassen. Hirata beschloss, nicht den doshin zu vernehmen, der den entsprechenden Bericht erstellt hatte, sondern eine bessere, wenngleich inoffizielle Informationsquelle anzuzapfen.
Vielleicht würde ihn das von Konkubine Ichiteru ablenken.
Der große Holzbogen der Ryôgoku-Brücke überspannte den Fluss Sumida und stellte eine direkte Verbindung zwischen Edo und den ländlichen Bezirken Honjo und Fukagawa auf der Ostseite des Flusses dar. Unter der Brücke glitten Fischerboote und Fähren über das Wasser, in dem sich die kräftigen Farben des Herbstlaubes an den Ufern und der tiefblaue Himmel spiegelten. Tempelglocken läuteten hell und klar in der kühlen, reinen Luft.
Die Hufe von Hiratas Pferd klopften auf die Holz planken der Brücke, als er sich dem Strom der Händler und Reisenden anschloss, die zum gegenüberliegenden Ufer des Sumida wollten, in eine Gegend, die als Hon jo Mukô Ryôgoku bekannt war, die ›Andere Seite‹ von Ryôgoku. Dieses Gebiet hatte sich erst in den letzten Jahren entwickelt, als
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