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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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die Einwohnerzahl Edos so sehr angewachsen war, dass selbst diese Riesenstadt die Menschen nicht mehr hatte aufnehmen können. Man hatte Sumpfland trockengelegt, und an den Ufern des Flusses waren Lagerhäuser und Anlegestellen entstanden. Im Schatten des Tempels der Hilflosigkeit, der auf dem Friedhof erbaut worden war, wo die Opfer des Großen Feuers vor 33 Jahren ruhten, war ein blühendes Händlerviertel gewachsen. Außerdem war Honjo Mukô Ryôgoku wegen seiner vielen Vergnügungsbetriebe beliebt. Gemeine Bürger und rônin drängten sich in der breiten Feuerschneise, um die Teehäuser, die Esslokale, die winzigen Theater der Geschichtenerzähler und die Spielhallen zu besuchen, in denen die Gäste Karten spielten, bei Schildkrötenrennen wetteten oder Wurfpfeile auf Zielscheiben schleuderten, um Preise zu gewinnen. Auf grellen Schildern über dem Eingang einer Menagerie waren wilde Tiere zu sehen. Ausrufer versuchten Gäste anzulocken; Straßenhändler verkauften Süßigkeiten, Spielzeug und Feuerwerkskörper. Hiratas Ziel war eine besonders beliebte Attraktion, wo sich eine große Menschenmenge vor einer erhöhten Plattform drängte, auf der ein Mann von bemerkenswertem Äußeren stand.
    Er trug einen blauen Kimono, Überhosen aus Baumwolle, Strohsandalen und ein rotes Stirnband. Widerspenstiges schwarzes Haar bedeckte nicht nur seinen Scheitel, sondern auch sämtliche anderen Körperteile, die er der Menge zeigte: Wangen, Kinn, Hals, die Handrücken, die Füße – von den Sohlen abgesehen – und jenen Teil der Brust, den sein weit geöffneter Kimono frei ließ. Seine Knopfaugen waren unter den buschigen Brauen kaum zu sehen, und in dem Wust aus Barthaaren grinste ein Mund voller scharfer, spitzer Zähne.
    »Hereinspaziert! Bei mir bekommt ihr schreckliche Bestien und wundersame Zauberwesen zu sehen!«, rief die Ratte, wie der Mann sich selbst nannte. Er wies auf den Eingang eines Holzgebäudes hinter ihm, der mit einem Vorhang verhängt war. »Bestaunt den Zwerg aus Kantô! Gruselt Euch vor der lebenden Bodhisattva! Erschaudert vor den Ungeheuern aus dem Reich der Natur!«
    Wahrscheinlich war die Ratte nicht minder monströs als seine Ungeheuer. Er stammte von der fernen Nordinsel des Landes, aus Hokkaidô, wo die Menschen dank der eisigen Winter eine üppige Körperbehaarung entwickelt hatten. Die Ainu, wie sie genannt wurden, erinnerten an Affen, waren sehr primitiv und für gewöhnlich viel größer als der normale Japaner. Die Ratte hingegen war klein und drahtig und offenbar ein Zwerg in seinem Volk – aber ein sehr geschäftstüchtiger Zwerg. Er war schon als junger Mann nach Edo gekommen, um sein Glück zu versuchen. Ein Tabakhändler hatte ihm Unterkunft im hinteren Teil seines kleinen Ladens gegeben und von den Kunden, die sich das haarige Wesen anschauen wollten, Eintrittsgeld kassiert. Bald hatte der Ainuzwerg aufgrund seines nagetierähnlichen, behaarten Gesichts seinen Spitznamen weg. Die Attraktion des Tabakhändlers war schließlich so erfolgreich geworden, dass er seinen Nebenerwerb zum Beruf gemacht und sein einträgliches, berüchtigtes Kuriositätenkabinett eröffnet hatte. Nun, 20 Jahre später, war die Ratte selbst der Eigentümer des Etablissements, das er nach dem Tod seines Herrn, des einstigen Tabakhändlers, geerbt hatte.
    »Hereinspaziert!«, rief er. »Der Eintritt kostet nur zehn zeni! «
    Die Münzen in der Hand, stellten die Zuschauer sich in einer Reihe vor dem Vorhang auf. Der Rattenmann sprang von der Plattform, um die Leute ins Innere zu drängen; sein Helfer, ein riesenhafter, muskelbepackter Gigant, kassierte das Eintrittsgeld. Hirata stellte sich ans Ende der Schlange. Als der Riese die leeren Hände des jungen Mannes sah, machte er ein düsteres Gesicht und stieß grollende Laute aus.
    »Ich bin gekommen, weil ich mit dir reden muss«, sagte Hirata zur herbeieilenden Ratte.
    »Ah, Hirata-san.« Habgier und Verschlagenheit spiegelten sich in den Knopfaugen der Ratte; er rieb sich die haarigen Hände. »Was kann ich heute für Euch tun?«
    »Ich brauche Informationen.«
    Die Ratte, die fast ständig in Edo und den angrenzenden Provinzen unterwegs war und nach neuen Monstrositäten für ihr Kabinett Ausschau hielt, suchte bei dieser Gelegenheit auch nach Neuigkeiten und verdiente sich ein Zubrot, indem sie ihre Informationen verkaufte. Als Hirata noch als doshin Dienst getan hatte, hatte er die Ratte einmal bei der Durchsuchung eines illegal betriebenen Freudenhauses

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