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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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verschwunden, die vor allem aus Frauen bestand, welche in ihren farbenprächtigen Kimonos wie Schwärme zwitschernder exotischer Vögel wirkten. In den Geschäften an dieser Straße wurden Schönheitstränke und Haarschmuck, Schminke und Duftwässer, Perücken und Fächer verkauft. Bei den wenigen Männern, die zugegen waren, handelte es sich um Ladenbesitzer, Schreiber oder den Begleitschutz der Damen. Reiko schob den indigoblauen Vorhang am Eingang des Ladens von Soseki zur Seite, dem bekannten Händler von Schönheitsmitteln, und trat ein.
    Der Verkaufsraum wurde vom Oberlicht und von den Sonnenstrahlen erhellt, die durch die vergitterten Fenster fielen, und war mit Regalen, Schränken, Truhen und Behältnissen voll gestellt, die alle erdenklichen Mittel enthielten, welche der Schönheitspflege dienten: Heilsalben, Haaröle und Haarfärbemittel, Seifen und Fleckentferner sowie Pinsel und Schwämme, die man zur Anwendung mancher Mittel benötigte. Verkäufer warteten auf ihre Kundinnen. Reiko ließ ihre Schuhe im Eingangsflur stehen und bewegte sich dann durch die Gänge, auf denen es von Frauen nur so wimmelte. Vor einem Schaukasten mit Badeölen hielt sie an.
    Dort stand bereits eine Frau Ende 30. Sie trug den blauen Kimono einer joro, einer höherrangigen Palastbeamtin, und war dünn, beinahe ausgezehrt; das Haar hatte sie auf dem Scheitel aufgesteckt. Mit herablassendem Gesichtsausdruck wandte sie sich an den Verkäufer. »Ich nehme je zehn Flaschen Extrakt – von der Fichte, dem Jasmin, der Gardenie, der Mandel und der Orange.«
    Der Verkäufer notierte die Bestellung. Die joro winkte ihre Dienerinnen zu sich und wandte sich zum Gehen. Rasch trat Reiko näher.
    »Guten Morgen, Cousine Eri-san«, sagte sie und verneigte sich.
    Die magere Frau war eine von Reikos entfernten Verwandten mütterlicherseits, eine ehemalige Konkubine des Shôguns Iemitsu, des Vorgängers von Tokugawa Tsunayoshi. Mittlerweile war Eri für die Versorgung der Frauengemächer mit Schönheits- und Pflegemitteln zuständig; eine vergleichsweise unbedeutende Beamtin und somit eine Frau, die Sano zweifellos an den Schluss seiner Liste der Verdächtigen setzen würde. Doch Reiko wusste, dass Eri die zentrale Figur des Gerüchte- und Nachrichtennetzes der Frauen im Palast zu Edo war. Reiko hatte ihre Dienerinnen der Cousine nachspionieren lassen und so erfahren, dass Eri am heutigen Tag den Laden des Händlers Soseki aufsuchen würde. Obwohl sie verwandt waren, wahrte Reiko anfangs eine vorsichtige und distanzierte Höflichkeit.
    »Dürfte ich wohl ein Wort mit Euch sprechen?« Seit dem Tod von Reikos Mutter pflegte der Ueda-Klan nur noch unregelmäßigen Kontakt mit Eris Familie. Ihr Amt hatte Eri zusätzlich von Familie und Freunden getrennt. Reiko vermutete, dass Eri einer jüngeren, hübscheren und gut verheirateten Verwandten ablehnend gegenübertreten würde.
    Doch Eri begrüßte Reiko mit einem leisen, freudigen Ausruf. »Reiko-chan! Wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben! Ihr wart damals noch ein kleines Mädchen, und nun ist eine junge Frau aus Euch geworden. Und noch dazu verheiratet!« Eri, vor vielen Jahren selbst eine Schönheit, hatte ihr frisches jugendliches Aussehen längst verloren. Ihr mittleres Alter war auch am grauen Ansatz ihrer gefärbten Haare zu erkennen, sowie an der Hagerkeit ihres einst frischen, vollen Gesichts. Doch die Wärme ihrer Augen und ihr herzliches Lächeln waren wie eh und je. Wenn Eri einen anschaute, erinnerte sich Reiko, fühlte man sich stets als etwas Besonderes, einfach nur weil man die Aufmerksamkeit dieser Frau besaß. Zweifellos hatte Eri auch ihren einstigen Herrn, den Shôgun, mit ihrer Art und ihren Blicken umgarnt – und so konnte sie noch heute die Menschen dazu bringen, sich ihr anzuvertrauen. »Kommt mit«, sagte Eri nun, »gehen wir irgendwohin, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«
    Kurz darauf saßen sie gemütlich in einem Hinterzimmer des Ladens bei Reisschnaps, getrockneten Früchten und Kuchen, die der Ladeninhaber ihnen hatte bringen lassen. Weil Damen von Rang und Ansehen öffentliche Teehäuser oder Essstände mieden, gab es in vielen Geschäften dieses Stadtviertels solche Zimmer, in denen die Kundinnen sich erfrischen konnten. Diese Gemächer, die nicht von Männern betreten werden durften, dienten oft als Räumlichkeiten, in denen Klatsch und Tratsch ausgetauscht wurden. Durch die papierenen Wände konnte Reiko die Schatten anderer Frauen

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