Das geheimnisvolle Gesicht
zur Last falle, Herr Gaitner.“
„Das tun Sie absolut nicht!“ gab der Exkommissar zurück und konstatierte ahnungsvoll: „Es bedarf in diesem Fall weder meines sechsten Sinns noch des Blickes auf die Uhr. Allein das Hoch in Ihrer Stimme verrät mir, daß sich etwas ereignet hat.“
„Stimmt! Es hat sich etwas ereignet!“ Perry Clifton staunte einmal mehr. „Ich hatte eben Besuch von einer jungen Dame. Sie heißt Colette Salier.“
Gaitner wußte sofort Bescheid. „Das Zimmermädchen aus dem Bristol!“
Ja!“
„Und — besitzt sie Madames Nachsendeadresse?“
„Nein, das nicht. Aber eine Information, die mindestens ebensoviel Wert hat: Madame Bloyer besaß eine wertvolle Uhr, die sie einen Tag vor ihre Abreise zu einem Uhrmacher geben mußte. Sie wollte den Uhrmacher bitten, ihr die Uhr nachzuschicken. Also...?“
„Also muß der Uhrmacher ihr neues Reiseziel kennen!“ vollendete Gaitner. „Wissen Sie auch, wie der Uhrmacher heißt?“
„Ehrmann. Er soll ein Geschäft in der Steinenvorstadt haben.“
„Ganz in Ihrer Nähe.“
„Ob wir diesem Herrn Ehrmann morgen am heiligen Sonntag einen Besuch abstatten können?“
Gaitner zögerte keinen Augenblick mit der Antwort: „Natürlich können wir! Ich hole Sie um 10 Uhr ab!“
„Ist das nicht zu früh? Vielleicht schläft er sonntags länger“, gab Perry Clifton zu bedenken.
„Na schön, dann halb elf. Haben Sie diesem Fräulein Colette auch die Fotos gezeigt?“
„Ja. Es gibt keinen Zweifel mehr daran, daß Madame Bloyer, das ,unheimliche Gesicht’, identisch ist mit Claire Burton, der angeblich tödlich Verunglückten.“ Und nach einer kleinen Pause fügte er in Gedanken verstrickt hinzu: „Das ist im Augenblick aber auch das einzige, was sich mit Sicherheit behaupten läßt.“ Er erwähnte nichts davon, was für ihn jetzt unumstößlich feststand: Der „Fall Burton“ war ein Fall von Versicherungsschwindel oberer Größenordnung. Doch dann verschlug es ihm einmal mehr die Sprache. Gaitner sprach das aus, was ihm knapp 24 Stunden zuvor schon selbst durch den Kopf gegangen war. Und Gaitners Stimme klang dabei merkwürdig ernst: „So, wie sich die Dinge abzeichnen, muß der Fall mit der Lebensversicherung Zusammenhängen. Nachdem feststeht, daß die angebliche Tote nicht tot ist, möchte ich behaupten, daß sie sich in großer Gefahr befindet.“
„Diese Befürchtung habe ich auch. Übrigens, Herr Gaitner, da wäre noch eine sehr wichtige Frage, von deren Antwort eine Menge abhängt. Erinnern Sie sich an die einzelnen Fotos, die ich Ihnen zeigte?“
„Ja, ich erinnere mich an jede Aufnahme. Fragen Sie!“ Und Perry Clifton stellte jene Frage, von der, wie er meinte, eine Menge abhing. Johannes Gaitner antwortete ohne Zögern. Eine Pause schloß sich an.
Irritiert forschte der ehemalige Kommissar: „Sind Sie nicht zufrieden mit meiner Antwort?“
„Doch... Jetzt habe ich den ersten Beweis dafür, daß mir mein Auftraggeber nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Nicht nur das, er hat mich sogar bewußt und in voller Absicht belogen.“
„Und welche Konsequenzen wollen Sie aus diesem Wissen ziehen?“
„Das weiß ich wohl erst dann, wenn ich mit Madame Bloyer... ich meine, mit Claire Burton gesprochen habe. Noch etwas zum morgigen Tag, Herr Gaitner: Sie glauben zwar, daß sich Püttely und Komplizen erst am Montag wieder auf meine Spur setzen werden, aber ich möchte doch jedes Risiko ausschalten.“
Gaitner stimmte sofort zu: „Sie haben recht. Es wäre eine Dummheit von mir, nachdem wir Püttely noch immer nicht kennen, Sie vom Hotel abzuholen. Verlassen Sie es durch den Hinterausgang. Ich werde Sie auf dem Birsig-Parkplatz erwarten.“
„Okay“, sagte Perry Clifton.
„Gute Nacht!“ wünschte der Kommissar.
Gute Nacht? Würde es wirklich eine gute Nacht werden?
Merkwürdig, wirklich merkwürdig!
Von dem Stimmungshoch, das Gaitner zu Beginn des Gesprächs mit ihm erwähnt, und von der Zuversicht, die ihn nach Colettes Weggang erfüllt hatte, war nichts übriggeblieben.
Im Gegenteil, die alte Unruhe überfiel ihn wieder und zerrte mit der gleichen Intensität an ihm wie schon einmal am heutigen Abend. Als er sich, müde vom Denken, vom Grübeln und von den Ereignissen des Tages auszog und wenig später ins Bett kroch, tat er es in der festen Überzeugung, damit einen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Dieses Wissen und das Suchen nach einer Antwort auf die Frage, welcher Fehler das sein könnte,
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