Das geheimnisvolle Gesicht
schließlich auch kein Irrtum gewesen.
„Wie heißt die junge Dame denn?“
Dumpf, von einer zuhaltenden Hand verdeckt, hörte Perry zuerst die Stimme des Portiers, dann die eines Mädchens. Und wieder die des Portiers. Laut und dröhnend war sie plötzlich in seinem Ohr.
„Sie heißt Colette Salier und ist Zimmermädchen im Hotel Bristol!“
Das war weder ein Scherz noch ein Irrtum, noch sonst was. Das war ein Wunder!... „Sie soll warten, ich bin sofort da! Stellen Sie Ihr eine Flasche Sekt hin!“ schrie er in die Muschel und knallte den Hörer auf die Gabel. Murmelnd, zischend, pfeifend und zählend (die Kleidungsstücke, in die er sich hineinquälte) zog er sich an. Als er bei neun den linken Fuß in den rechten Schuh zu quetschen versuchte, waren noch nicht einmal 60 Sekunden vergangen. Das Umwechseln dauerte sechs, das Kämmen weitere acht Sekunden. Genau zwei Minuten nach dem Anruf des Portiers sprang er über die letzten Stufen in die Empfangshalle.
Der Portier winkte ihm verlegen zu. Während Clifton auf ihn zuging, suchten seine Augen nach Colette. Und er glaubte sie auch schon entdeckt zu haben. Sicher war es die junge Dame dort hinten in der Ecke.
„Verzeihung, Mister Clifton“, sagte der Portier, „aber ich war mir nicht sicher, ob Sie sich nicht versprochen hatten...“
„Versprochen? Wobei?“
„Bei der Flasche Sekt, meine ich... Für eine einzelne Dame...?“ (Er sagte Dame, obwohl er wußte, daß sie Zimmermädchen war. Perry schob ihm dafür eine englische Pfundnote in die Hand.) „Sie haben recht. Lassen Sie uns zwei Gläser servieren! Wo steckt sie?“
Der Portier deutete mit den Augen unauffällig dorthin, wo Perry jene Colette längst erspäht hatte.
Sie erhob sich, als er auf sie zutrat. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt, klein, zierlich, mit tiefschwarzen Haaren und Augen. Sie blickte den Detektiv forschend an und hielt ihm dann die Hand hin: „Guten Abend, ich bin Colette Salier!“
„Ich seh ein bißchen wild aus, was?“ lächelte Perry sie an. „Aber bitte bedenken Sie, daß ich vor vier Minuten noch in der Badewanne gesessen habe!“
Sie legte sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Keine Sorge“, beschwichtigte Perry, „für Sie wäre ich jetzt sogar durch den Rhein geschwommen.“ Er deutete auf zwei Sessel: „Wollen wir uns hier unterhalten? Oder möchten Sie lieber ins Restaurant gehen?“
„Ich bleibe gern hier.“ Sie sprach mit starkem französischem Akzent.
Ein Kellner kam mit einem Tablett, auf dem zwei Sektkelche standen und in denen es wunderbar perlte. Colette errötete, als ihr Perry Clifton eines der Gläser in die Hand gab und mit dem zweiten bei ihr anstieß. „Dafür, daß Sie gekommen sind!“
Sie nippte und stellte das Glas vorsichtig auf das kleine Tischchen. „Ich bin erst vor einer Stunde aus Toulon zurückgekommen. Und da hat mir die Chefin gleich gesagt, daß Sie dagewesen seien und daß es um Madame Bloyer ginge... und um eine Erbschaftsangelegenheit. Ich würde Madame sehr gern behilflich sein. Sie war immer sehr freundlich und sehr großzügig zu mir!“
„Und sie kam ebenfalls aus Frankreich!“
„Ja, Monsieur!“
Perry Clifton wußte, was in dieser Minute auf dem Spiel stand.
Als er das erste Foto aus dem Umschlag zog, war es genau
22 Uhr 30...
(Und genau in diesem Augenblick hielt ein lindgrüner FIAT vor dem Haus Rheingasse 77.)
Es war die große Porträtaufnahme von Claire Burton. Er hielt sie Colette hin. „Ist sie das?“
„Ja, das ist sie!“ kam es sofort zurück. „Das ist Madame Bloyer.“ Er reichte ihr ein Foto nach dem anderen. Und jedesmal stieß Colette mit einem fast glücklichen Glucksen die gleichen Worte aus: „Das ist Madame Bloyer!“
Cliftons Stimme war sehr ernst, und Colette blickte ihn überrascht und ein wenig beunruhigt an, als er meinte: „Fräulein Colette, überlegen Sie genau, und sehen Sie sich alle Fotos noch einmal aufmerksam an. Besonders dieses hier“, er zeigte auf die Porträtaufnahme. „Ist das wirklich Madame Bloyer?“
„Ja, Monsieur... Hier, auf dem großen Bild (Porträt) sehen Sie es ganz genau.“ Sie tippte mit der winzigen Spitze ihres Zeigefingers auf einen ebenso winzigen Fleck neben Claire Burtons linkem Auge. „Diesen kleinen Leberfleck hat sie immer weggeschminkt. Und wenn sie es mal vergessen hatte, dann hat sie immer mächtig mit sich geschimpft!“
Perry Clifton ließ sich nichts anmerken...
Das, was er geahnt hatte... und nicht nur er allein,
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