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Das Geiseldrama

Das Geiseldrama

Titel: Das Geiseldrama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Tarzan bemühte sich um Gleichgültigkeit.
    Klirrend fiel der Schlüssel auf
den Steinboden.
    Roland bückte sich, stieß aber
mit dem Fuß dagegen. Der Schlüssel schlitterte in Tarzans Richtung.
    Das ist kein Versehen, schoß es
Tarzan durch den Kopf. Das ist Absicht.
    Roland lief die paar Schritte
zum Schlüssel. Damit hatte sich sein Abstand zu Schorbach genügend vergrößert.
    Statt sich zu bücken, riß er
den Mund auf.
    „Hiiiilfe!“ schrie er.
„Überfall! So helfen Sie doch!“
    Reisende standen in der Nähe.
Es waren überwiegend Frauen. Von den Männern sah keiner wie ein Held aus.
    Alles geschah jetzt
gleichzeitig: Roland begann zu laufen. Schorbach sprintete los, riß die Hand
aus der Tasche und hatte den Fliehenden fast erreicht. Die Messerklinge
blitzte. Eine Frau schrie gellend, obwohl sie nicht bedroht war. Tarzan war
vorwärts geschnellt und setzte zum Sprung an.
    Im selben Bruchteil der
Sekunde, da Schorbach sein Messer in Rolands Rücken stoßen wollte, prallte
Tarzan gegen den Gewalttäter.
    Der Stoß wurde abgelenkt. Die
Klinge ritzte Roland den Oberarm. Schorbach taumelte gegen die Schließfächer,
ließ das Messer fallen und japste nach Luft. Tarzans Schulter hatte ihn auf den
Rippen getroffen.
    Roland jaulte, als werde er
massakriert (niedergemetzelt). Tarzan landete auf den Händen, packte das
Messer und schnellte hoch. Mit einem Ohr hörte er das Heulen von Polizeisirenen
vor dem Bahnhof.
    Mit erhobenem Messer trat er
auf Schorbach zu. Dessen Rechte wollte unter die Jacke greifen — vermutlich zur
Waffe.
    „Keine Bewegung!“ brüllte
Tarzan ihn an. „Sie...“
    Weiter kam er nicht.
    Eine alte Dame — knapp 80, aber
resolut und rüstig — mißverstand die Situation. Da stark schwerhörig, hatte sie
den Lärm zu spät vernommen. Als sie sich dem Tumult zuwandte, sah sie gerade,
wie ein entsetzter Mensch floh und ein Mann bedroht wurde: von einem
Jugendlichen, einem halbstarken Lümmel, der in eindeutiger Absicht sein Messer schwang
und bestimmt Rocker, Punker und Handtaschendieb war, nur kein guter Junge.
    Empörung brachte Hermine
Witters Blut in Schwung. Sie machte zwei Schritte und stemmte ihre Reisetasche
über den Kopf. Die Tasche enthielt unter anderm eine Flasche Bananenlikör. Und
schließlich: Vor gut 60 Jahren war Hermine eine stramme Turnerin gewesen.
    Sie schlug zu.
    Schorbach hätte allen Grund
gehabt, sich bei ihr zu bedanken.
    Tarzan wurde zwischen Genick
und Schulter getroffen. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Stechender Schmerz
zuckte durch Rückgrat und Arm. Für einen Moment fühlte er sich wie gelähmt.

    Verflucht! Wer ist das? schoß
es ihm durch den Kopf. Roland? Aber der flieht doch. Wer sonst?
    Schorbach sah seine Chance. Er
war wieder bei Atem. Er stieß sich von der Schließfachwand ab und rannte an
Tarzan vorbei.
    „Ich hole die Polizei“, rief
er.
    Im Vorbeirennen schlug er nach
Tarzan. Aber seine schwere Faust traf ihn nur an der Brust.
    Tarzan konnte nicht ausweichen,
sondern kämpfte an gegen die Wirkung des Bananenlikörs, der ihn samt ungeöffneter
Flasche wie ein Totschläger getroffen hatte. Der Faustschlag ließ ihn
zurücktaumeln. Er fiel Hermine Witter in die Arme.
    „Weg!“ kreischte sie. „Rowdy!
Messerstecher! Polizei! Hilfe!“
    Tarzan drehte sich um — gerade
noch rechtzeitig. Hermine holte zum zweiten Schlag aus, und allmählich bekam
sie Übung.
    Er wich einen Schritt zurück
und merkte, daß er immer noch Schorbachs Messer in der Hand hielt.
    Jetzt verebbte der Schmerz.
    Schorbach! Wo war er?
Verschwunden. Aber draußen gellten die Sirenen, und beim Eingang war Tumult.
Also doch Polizei. War Schorbach den Ordnungshütern in die Arme gelaufen?
    „Du bleibst hier!“ befahl
Hermine. „Bis die Polizei kommt! Du Bengel!“
    „Mein Gott! Oma! Der Kerl mit
der Sonnenbrille — das war ein Terrorist. Der andere auch. Wenigstens den einen
hätte ich geschnappt — ohne Ihr Eingreifen. Oma, Sie haben den Falschen
geprügelt. Und es hat weh getan. Was, zum Henker, haben Sie in der Tasche?“
    Sie blickte durch ihre
goldgefaßte Brille. Mit den ungezählten Runzeln sah sie aus wie ein alter
Indianerhäuptling.
    „Wie? Was sagst du? Terrorist?“
    Tarzan bückte sich und hob den
Schließfachschlüssel auf.
    Schorbachs Mordwerkzeug war ein
Springmesser. Tarzan ließ die Klinge im Griff verschwinden und wandte sich zum
Eingang. Ein Jammer, daß die Oma ihn behindert hatte.
    „Wenn das wahr ist, tut’s mir
leid“, sagte Hermine Witter.

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