Das Geisterhaus
sehen.
Clara stand regungslos auf ihrer Kiste und konnte bis zum
Schluß den Blick nicht abwenden. Lange, frierend, ohne es zu
spüren, spähte sie durch die Ritze, bis die zwei Männer Rosa
ganz ausgeleert hatten, ihr eine Flüssigkeit in die Adern
gespritzt hatten, sie innen und außen mit aromatischem Essig
und Lavendelessenz gewaschen hatten. Sie blieb, als sie sie mit
Balsamiersubstanzen füllten und mit einer gebogenen
Tapeziernadel zunähten. Sie blieb, bis Doktor Cuevas sich im
Ausguß die Hände wusch und sich die Tränen abwischte,
während der andere Blutspritzer und Gedärme beseitigte. Sie
blieb, bis der Arzt seinen schwarzen Rock anzog und mit einer
todtraurigen Geste die Küche verließ. Sie blieb, bis der junge
Unbekannte Rosa auf die Lippen, den Hals, die Brüste und
zwischen die Beine küßte, sie mit einem Schwamm wusch, ihr
das gestickte Hemd anzog und schwer atmend ihr Haar ordnete.
Sie blieb, bis die Nana und Doktor Cuevas kamen und ihrer
Schwester das weiße Kleid anzogen und ihr den Kranz aus
Orangenblüten aufsetzten, den sie, in Seidenpapier eingewickelt,
für den Tag ihrer Hochzeit aufbewahrt hatte. Sie blieb, bis der
Assistent Rosa mit derselben ergreifenden Zärtlichkeit auf die
Arme nahm, mit der er sie über die Schwelle seines Hauses
getragen hätte, wenn sie seine Braut gewesen wäre. Sie konnte
sich nicht von der Stelle bewegen, bis es hell wurde. Dann
schlich sie in ihr Bett zurück. Sie fühlte in sich das Schweigen
der ganzen Welt. Dieses Schweigen erfüllte sie ganz, und so
sprach sie nicht wieder, bis sie, neun Jahre später, ihre Stimme
erhob und verkündete, sie werde heiraten.
Zweites Kapitel
Die Drei Marien
Im Eßzimmer seines Hauses, zwischen altmodischen,
abgenutzten Möbeln, die in ferner Vergangenheit einmal gute
viktorianische Stücke gewesen waren, aß Esteban Trueba mit
seiner Schwester Férula die gleiche fette Suppe wie alle Tage
und den gleichen faden Fisch wie jeden Freitag. Bedient wurden
sie von einer alten Hausangestellten, die sie in der damals noch
herrschenden Tradition entlohnter Haussklaven ihr Leben lang
bedient hatte. Gebückt und halb blind, aber noch energisch, kam
und ging die alte Frau zwischen Küche und Eßzimmer, die
Schüsseln feierlich auf- und abtragend. Doña Ester Trueba aß
nicht mit ihren Kindern am Tisch. Sie verbrachte die Vormittage
bewegungslos in ihrem Lehnstuhl, beobachtete durchs Fenster
den Betrieb auf der Straße und sah zu, wie das Viertel, das in
ihrer Jugend ein vornehmes Viertel gewesen war, im Lauf der
Jahre verfiel. Nach dem Mittagessen wurde sie in ihr
Schlafzimmer gebracht und halb sitzend gebettet, die einzige
Stellung, die ihre Arthritis zuließ. Da blieb sie, ohne anderen
Zeitvertreib als die erbauliche Lektüre ihrer frommen Heftchen
über das Leben und die Wunder der Heiligen, bis zum nächsten
Tag, dessen Ablauf sich routinemäßig wiederholte. Aus dem
Haus kam sie nur, um an der Sonntagsmesse teilzunehmen, zu
der Férula und die Angestellte sie im Rollstuhl in die zwei
Straßen weiter gelegene Kirche San Sebastián fuhren.
Esteban hatte das letzte weißliche Fischfleisch aus dem
Gewirr der Gräten herausgekratzt und das Besteck auf den
Teller gelegt. Er saß so, wie er ging, steif, sehr aufrecht, den
Kopf ein wenig nach hinten und leicht zur Seite geneigt, aus den
Augenwinkeln schauend in einer Mischung aus Hochmut,
Mißtrauen und Kurzsichtigkeit. Diese Haltung hätte abstoßend
gewirkt, wären nicht seine Augen überraschend sanft und klar
gewesen. Seine starre Haltung hätte eher zu einem kleinen
Dicken gepaßt, der größer erscheinen wollte, aber er maß einen
Meter achtzig und war gertenschlank. Alle Linien seines
Körpers verliefen senkrecht und aufsteigend, von der scharfen
Adlernase und den spitzen Augenbrauen bis zu der hohen Stirn
und der nach hinten gekämmten Löwenmähne. Er ging mit
großen Schritten, bewegte sich energisch und wirkte stark,
ermangelte aber nicht einer gewissen Anmut in den
Bewegungen. Sein Gesicht war harmonisch, trotz der
abweisenden, finsteren Züge und des häufig mißlaunigen
Gesichtsausdrucks. Seine hervorstechende Eigenschaft war sein
Jähzorn, die Neigung, aufzubrausen und den Kopf zu verlieren.
So war er schon in seiner Kindheit gewesen: mit Schaum vor
dem Mund und wie ein Besessener um sich schlagend warf er
sich auf den Boden und bekam vor Wut keine Luft mehr. Man
mußte ihn mit eiskaltem Wasser begießen, damit er
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