Das Geisterhaus
kam der Friedhofswärter zurück. Er
wird wohl Mitleid gehabt haben mit dem halberfrorenen Narren,
der die Nacht unter den fahlen Friedhofsgespenstern verbracht
hatte. Er hielt mir seine Feldflasche hin.
»Heißer Tee. Trinken Sie, Señor«, bot er mir an.
Aber ich schob ihn weg und entfernte mich fluchend mit
großen Schritten zwischen den Gräbern und den Zypressen.
In der Nacht, in der Doktor Cuevas und sein Assistent Rosas
Leichnam in der Küche ausweideten, um die Todesursache
festzustellen, lag Clara mit offenen Augen zitternd in der
Dunkelheit im Bett. Der schreckliche Zweifel plagte sie, ob ihre
Schwester gestorben war, weil sie es gesagt hatte. Sie glaubte,
daß sie ebenso, wie sie durch Geisteskraft das Salzfaß bewegen
konnte, auch die Ursache der Todesfälle, Erdbeben und anderer
größerer Unglücksfälle sein könne. Umsonst hatte ihre Mutter
ihr erklärt, daß sie diese Ereignisse nicht bewirkte, sie nur früher
als andere sah. Sie war verzweifelt und fühlte sich schuldig und
meinte, daß sie sich besser fühlen würde, wenn sie bei Rosa
wäre. Sie stand auf. Barfuß, im Nachthemd ging sie ins
Schlafzimmer, das sie mit ihrer älteren Schwester geteilt hatte,
aber sie lag nicht mehr in dem Bett, in dem sie sie zuletzt
gesehen hatte. Sie begann im ganzen Haus nach ihr zu suchen.
Alles war dunkel und still. Ihre Mutter schlief mit dem
Beruhigungsmittel, das Doktor Cuevas ihr gegeben hatte, und
ihre Geschwister und die Dienstboten waren frühzeitig auf ihre
Zimmer gegangen. An der Wand entlang, verängstigt, frierend
lief sie durch die Wohnräume. Die schweren Möbel, die dicken
drapierten Vorhänge, die Bilder an den Wänden, die Lampen,
die leise an der Decke schwankten, die Tapeten mit den Blumen
auf dunklem Grund und die Farnbüschel oben an den Säulen
hatten etwas Drohendes. An einem hellen Streifen unter der Tür
merkte sie, daß im Salon ein schwaches Licht brannte. Sie
wollte schon eintreten, fürchtete aber, ihren Vater anzutreffen
und von ihm wieder ins Bett geschickt zu werden. Da ging sie
auf die Küche zu, weil sie dachte, daß sie an den Brüsten der
Nana Trost finden würde. Sie überquerte den Haupthof
zwischen den Kamelien und den Zwergorangen, danach die
Wohnräume ¡in zweiten Teil des Hauses und die dunklen
Gänge, in denen die ganze Nacht über schwache Gasleuchten
brannten, damit man bei einem Erdbeben rennen konnte und um
die Fledermäuse und anderes Nachtgetier abzuhalten, und kam
in den dritten Hof, in dem die Dienstbotenzimmer und die
Küche lagen. Dort verlor das Haus seinen herrschaftlichen
Anstrich und begann das Durcheinander der Hundezwinger,
Hühnerställe und Dienstbotenzimmer. Weiter drüben lag der
Stall für die Pferde, die Nivea immer noch benutzte, obwohl
Severo als einer der ersten ein Automobil gekauft hatte. Die
Türen und Fensterläden der Küche und der Speisekammer
waren geschlossen. Der Instinkt sagte Clara, daß drinnen etwas
Ungewöhnliches geschah, sie versuchte hineinzuschauen,
reichte aber nur mit der Nase ans Fensterbrett, sie mußte eine
Kiste an die Mauer schieben, sie kletterte hinauf, um durch eine
Ritze zwischen dem Laden und dem von der Feuchtigkeit und
der Zeit verzogenen Fensterrahmen zu schauen. Und da sah sie
ins Innere.
Doktor Cuevas, dieser so gutmütige, sanfte Mann mit dem
breiten Bart und dem dicken Bauch, der ihr geholfen hatte, auf
die Welt zu kommen, und sie bei allen Kinderkrankheiten und
ihren Asthmaanfällen kurierte, war zu einem der feisten,
finsteren Vampire geworden, die in den Bilderbüchern ihres
Onkels Marcos abgebildet waren. Er war über den Tisch
gebückt, auf dem sonst die Nana das Essen zubereitete. Neben
ihm stand ein junger Mann, den sie nicht kannte, im
blutbefleckten Kittel, bleich wie der Mond und mit liebestollen
Augen. Sie sah die leuchtend weißen Beine ihrer Schwester, ihre
nackten Füße. Clara begann zu zittern. In diesem Augenblick
trat Doktor Cuevas zur Seite, und sie sah das Schreckliche:
Rosa, auf dem Marmor ausgestreckt, den Leib bis zur Kehle
aufgeschlitzt, und daneben, in einer großen Salatschüssel, die
Gedärme. Rosas Gesicht war dem Fenster zugewandt, durch das
Clara in die Küche spähte, ihr grünes Haar hing wie
blutbefleckter Efeu vom Tisch auf den Boden. Sie hatte die
Augen geschlossen, aber durch das Spiel der Schatten oder die
Entfernung oder durch Einbildungskraft glaubte Clara ein
Flehen und den Ausdruck tiefer Demütigung in ihnen zu
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