Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
bist du da!« Die Tochter des Hausknechts, der jahrzehntelang im Dienste des Patriarchen stand und bereits verstorben war, hatte das seltene Privileg, Sander beim Vornamen ansprechen zu dürfen. Da sich beide aus Kindertagen kannten, hatte sich das so eingebürgert – eine Tatsache, die Sander heute bedauerte. Ella verstand es nicht, die nötige Distanz zu halten. Daher antwortete er auch schroffer als nötig.
»Hör auf mit dem Gezeter! Sag mir lieber, wo er ist! In der Sala dei Pappagalli?« Der Papageiensaal, der seinen Namen von den exotischen Wandmalereien, von Blumen, Bäumen und Vögeln hatte, war stets der Lieblingsort des alten Patriarchen gewesen.
»Nein, Alessandro, er ist in seinem Schlafzimmer. Heute hatte er nicht die Kraft, sich in seinen Sessel zu setzen.« Ella schniefte und wischte sich das Gesicht mit der Schürze ab.
Etwas besorgter meinte Sander: »Ist er wach?«
»Ja, ja, er will unbedingt mit dir sprechen. Er fragt dauernd nach dir. Ich konnte ihn kaum beruhigen.«
Wortlos drehte sich Sander um und gelangte über die Treppe in das Schlafgemach seines Oheims. Die schweren blauen Vorhänge des großen geschnitzten Bettes, das auf ein Podest gebaut war, waren auf einer Seite zurückgezogen, und Sander sah das bleiche und runzelige Gesicht Bernhards von Randegg. Sander ging entlang der kunstvoll mit Intarsien versehenen Truhen und nahm sich einen kleinen Hocker, dessen Füße Löwenköpfe zierten. Leise stellte er seinen Sitz neben das Bett. Fast erschrak er, denn er glaubte, sein Oheim wäre eingenickt, aber er war wach und sah ihn mit seinen wässrigen graublauen Augen dankbar an.
»Ich bin froh, Sander, dass du gekommen bist. Wirklich froh.«
Seine Stimme war rau und leise. Immer wieder machte er eine kleine Pause zwischen den einzelnen Wörtern. Es fiel ihm zusehends schwer, genug Luft zu bekommen.
Sander richtete sich alarmiert auf. Nun, dieses Mal hatte Ella nicht übertrieben, seinem Oheim schien es wirklich nicht gut zu gehen.
»Soll ich ein Fenster öffnen, soll ich dir Luft hereinlassen, einen Becher zu Trinken vielleicht?« Sander sprang von seinem Hocker und wollte zum Fenster eilen, doch der Patriarch legte seine Hand auf die seines Mündels und hielt ihn mit unerwarteter Kraft zurück.
»Nein, Sander. So viel Zeit haben wir nicht. Ich muss dir dringend etwas sagen. Setz dich.«
»Aber Oheim, soviel Zeit muss sein. Ich kann auch den Medicus rufen, der hat dir letztes Mal doch auch geholfen, der wird …«
Unwirsch unterbrach ihn der Alte: »Hör auf damit, Sander. Setz dich hin und hör mir einfach nur zu. Es ist sehr wichtig.«
Ergeben, aber doch besorgt, ließ sich Sander neben dem Bett des Patriarchen nieder und sah ihm in die Augen.
»So ist’s recht. Danke. Bitte unterbrich mich jetzt nicht.« Tief atmete Bernhard von Randegg durch, sein Atem rasselte, aber unbeirrt begann er zu erzählen.
»Ich muss dich um Verzeihung bitten, mein Sohn. Ich hab dir viel Schlechtes aus meinem Leben nicht erzählt. Ich dachte immer, ich hätte Zeit genug, um es auszubessern, wieder gutzumachen. Immer habe ich es vor mit hergeschoben und jetzt fürchte ich, nein, ich weiß es, dass ich den Schmerz, den ich bereitet habe, die Wunde, die ich in meiner Schlechtigkeit den Menschen zugefügt habe, nicht mehr heilen kann.«
Sander war betroffen, als er die Träne, die dem Alten über die Wangen in sein spitzenbesetztes Kissen tropfte, sah. Solang er denken konnte, war sein Vormund ein starker, unbeugsamer Mann gewesen, der keinerlei Schwäche und schon gar keine Tränen zeigte.
»Aber mein Oheim …«, setzte er zaghaft an.
»Nein, Sander, du sollst mich jetzt nicht unterbrechen«, kam es forsch, und etwas versöhnlicher setzte der Alte fort, »jetzt ist es an dir, meinen Fehler zu berichtigen. Ich muss dir ein schweres Erbe hinterlassen, mein Sohn.«
Was könnte denn das sein, dachte Sander verstört, soviel er wusste, war der Patriarch vor seinem Amt hier Bischof von Augsburg und kaiserlicher Diplomat gewesen. Er hatte Kaiser Karl den Luxemburger auf seinen Reisen begleitet, hatte sich als Generalkapitän militärisch bewährt und stets gute Verbindungen zu den Habsburgern gepflegt. Was sollte denn daran falsch gewesen sein? Staunend hörte er weiter der leisen Stimme des Alten zu:
»Ich bin nicht so edel, wie ich dir vorgegaukelt habe, Sander. Ich habe mir mein Amt als Patriarch mit Blut erkauft. Nein, nicht mit meinem. Mit unschuldigem Blut. Ich habe ein Menschenleben auf dem
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