Das Geld - 18
den Leuten keinen vernünftigen Begriff von dieser künftigen Gesellschaft vermitteln, von dieser Gesellschaft der gerechten Arbeit, deren Sitten so verschieden von den unseren sein werden. Das ist wie eine andere Welt auf einem anderen Planeten … Und dann müssen wir wohl auch zugeben, daß die Neugestaltung noch nicht fertig ist, wir suchen noch. Ich finde kaum noch Zeit zum Schlafen und verbringe meine Nächte über diesem Problem. Zum Beispiel steht fest, daß man uns sagen kann: ›Wenn die Dinge sind, wie sie sind, so hat die Logik der menschlichen Handlungen sie dazu gemacht.‹ Was für eine Mühsal bereitet es folglich, den Strom zu seiner Quelle zurückzubringen und in ein anderes Tal umzuleiten! … Gewiß verdankt die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ihre hundert Jahre währende Prosperität dem individualistischen Prinzip, das aus dem Wettbewerb und dem persönlichen Interesse durch eine unaufhörlich erneuerte Fruchtbarkeit der Produktion entsteht. Wird der Kollektivismus je zu dieser Fruchtbarkeit gelangen, und wodurch soll man die Produktivität des Arbeiters anregen, wenn der Gedanke an den Gewinn zerstört ist? Da besteht für mich der Zweifel, die Angst, der schwache Punkt, wo wir uns schlagen müssen, wenn wir wollen, daß der Sozialismus eines Tages den Sieg davonträgt … Aber wir werden siegen, weil die Gerechtigkeit mit uns ist. Da! Sehen Sie dieses Gebäude vor uns … Sehen Sie es?«
»Die Börse?« fragte Saccard. »Ja, natürlich sehe ich sie!«
»Nun gut! Es wäre dumm, sie in die Luft zu sprengen, weil man sie woanders wieder aufbauen würde … Allein ich sage Ihnen voraus, daß sie von selber in die Luft fliegen wird, wenn der Staat sie enteignet hat, wenn sie logischerweise die einzige, universale Bank der Nation geworden ist, und dann dient sie vielleicht – wer kann es wissen? – als öffentlicher Speicher für unsere zu großen Reichtümer, als eine jener Kornkammern, in denen unsere Enkel die üppige Fülle für ihre Festtage finden werden!«
Mit einer weit ausholenden Gebärde erschloß Sigismond diese Zukunft eines allgemeinen Glücks für alle. Und er hatte sich derart in Begeisterung geredet, daß ihn ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte. Er war an seinen Tisch zurückgekehrt, stemmte die Ellbogen zwischen seine Papiere und stützte den Kopf in die Hände, um das peinigende Röcheln aus seiner Brust zu ersticken. Aber diesmal gelang es ihm nicht. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Busch, der die Méchain verabschiedet hatte, eilte mit bestürzter Miene herbei, als litte er selbst an diesem abscheulichen Husten. Sogleich beugte er sich über seinen Bruder, nahm ihn in seine großen Arme wie ein Kind, dessen Schmerz man einlullt.
»Aber, aber, mein Kleiner, was hast du bloß, daß du bald erstickst? Du weißt, ich will, daß du einen Arzt kommen läßt. Das ist doch unvernünftig … Du hast bestimmt zuviel geschwatzt.«
Und er warf einen schiefen Blick auf Saccard, der mitten im Zimmer stehengeblieben war, sichtlich aufgewühlt von dem, was er soeben aus dem Munde dieses leidenschaftlichen, kranken großen Teufels vernommen hatte, welcher hier oben von seinem Fenster aus mit seinem Gerede, alles hinwegzufegen, um alles wieder aufzubauen, einen Zauberspruch über die Börse murmelte.
»Danke, ich lasse Sie nun allein«, sagte der Besucher und hatte es eilig, nach draußen zu kommen. »Schicken Sie mir meinen Brief mit den zehn Zeilen der Übersetzung … Ich erwarte noch mehr, wir regeln dann das Ganze zusammen.«
Aber da der Anfall vorüber war, hielt ihn Busch noch einen Augenblick zurück.
»Ach ja, was ich noch sagen wollte, die Dame, die eben hier war, kennt Sie von früher. Oh, es ist schon lange her.«
»Ach! Woher denn?«
»Rue de la Harpe, 1852.«
Sosehr Saccard auch Herr seiner selbst war, er wurde doch blaß. Ein nervöses Zucken verzog ihm den Mund. Zwar erinnerte er sich in dieser Minute keineswegs an das junge Ding, das er auf der Treppe umgelegt hatte. Er wußte nicht einmal, daß sie schwanger geworden war, und er wußte auch nichts von der Existenz des Kindes. Aber die Erinnerung an die elenden Jahre seines Anfangs war ihm immer noch sehr unangenehm.
»Rue de la Harpe. Oh, dort habe ich nach meiner Ankunft in Paris bloß acht Tage gewohnt, gerade die Zeit, um eine Wohnung zu suchen … Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!« sagte Busch mit Nachdruck; er sah in dieser Verwirrung irrtümlicherweise ein Geständnis und grübelte schon,
Weitere Kostenlose Bücher