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Das Geld - 18

Das Geld - 18

Titel: Das Geld - 18 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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von nichts lebte, wollte, daß die Arbeit eines jeden Menschen seinen Kräften angemessen sei und die Befriedigung seiner Wünsche gewährleisten solle. Losgelöst vom irdischen Leben, sehr sanft und sehr rein, begeisterte er sich wie ein wahrer Weiser nur am Studium. Seit dem letzten Herbst hatte sich sein Husten immer mehr verschlimmert, die Schwindsucht verheerte ihn, ohne daß er es überhaupt nur zur Kenntnis nahm und sich schonte.
    Doch als Saccard eine Bewegung machte, hob Sigismond erstaunt die großen verschwommenen Augen und wunderte sich, obwohl er den Besucher kannte.
    »Ich möchte mir nur einen Brief übersetzen lassen.«
    Die Überraschung des jungen Mannes wuchs, denn er hatte die Kunden entmutigt, die Bankiers, die Spekulanten und die Wechselmakler, diese ganze Börsenwelt, die besonders mit England und Deutschland einen umfangreichen Briefwechsel unterhielt, Rundschreiben und Gesellschaftsstatuten empfing.
    »Ja, ein Brief in russischer Sprache. Oh, bloß zehn Zeilen.«
    Nun streckte er die Hand aus, Russisch war sein Spezialfach geblieben, und von allen anderen Übersetzern im Viertel, die vom Deutschen und Englischen lebten, übersetzte er allein es fließend. Die Seltenheit der russischen Schriftstücke auf dem Pariser Markt erklärte, weshalb er oft lange Zeit ohne Arbeit war.
    Mit lauter Stimme las er den Brief auf französisch vor. Er enthielt ganz kurz in drei Sätzen die günstige Antwort eines Bankiers aus Konstantinopel, ein einfaches Ja in einer geschäftlichen Angelegenheit.
    »Oh, danke«, rief Saccard, der sehr erfreut zu sein schien.
    Und er bat Sigismond, die paar Zeilen der Übersetzung auf die Rückseite des Briefes zu schreiben. Aber dieser bekam einen schrecklichen Hustenanfall und hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um seinen Bruder nicht zu stören, der immer gleich herbeilief, sobald er ihn so husten hörte. Als dann der Anfall vorüber war, erhob er sich und öffnete das Fenster ganz weit, weil er bald erstickte und frische Luft atmen wollte. Saccard, der ihm gefolgt war, warf einen Blick hinaus und stieß einen leisen Ruf der Überraschung aus.
    »Oh, Sie sehen ja auf die Börse! Wie komisch sie von hier oben aussieht!«
    Er hatte sie tatsächlich noch nie aus einem so eigenartigen Blickwinkel gesehen, aus der Vogelperspektive, mit den vier großen verzinkten Flächen ihres außerordentlich weitläufigen Daches, bespickt mit einem Wald von Röhren. Die Spitzen der Blitzableiter ragten wie riesige Lanzen drohend in den Himmel hinein. Und das Gebäude selbst war nur noch ein Steinwürfel, an dem die Säulen regelmäßige Striche bildeten, ein nackter, häßlicher, schmutziggrauer Würfel, auf dem eine zerlumpte Fahne hing. Aber mit Erstaunen betrachtete er vor allem die Stufen und die Vorhalle, die mit schwarzen Ameisen wie besät waren: ein wimmelnder Ameisenhaufen in ungeheurer Aufregung, die man sich von so hoch oben gar nicht erklären konnte, so daß man Mitleid haben mußte.
    »Wie klein das von hier aussieht!« versetzte er. »Man möchte fast sagen, daß man sie alle mit einem Griff in die Hand nehmen kann.«
    Und da er die Ideen seines Gesprächspartners kannte, fügte er lachend hinzu:
    »Und wann fegen Sie das alles mit einem Fußtritt hinweg?«
    Sigismond zuckte die Achseln.
    »Wozu? Ihr richtet euch doch selbst zugrunde.«
    Jetzt wurde er allmählich lebhafter, sein Lieblingsthema brachte ihn zum Reden. Aus dem Bedürfnis heraus, Jünger zu werben, stürzte er sich bei der geringsten Andeutung in die Darlegung seines Systems.
    »Ja, ja, ihr arbeitet für uns, ohne daß ihr es ahnt … Ihr seid dort ein paar Usurpatoren, die die Masse des Volkes expropriieren, und wenn ihr euch vollgestopft habt, brauchen wir unsererseits nur noch euch zu expropriieren … Jeglicher Wucher, jegliche Zentralisierung führt zum Kollektivismus. Ihr gebt uns eine praktische Lehre, ebenso wie die Großgrundbesitzer, die das Land stückchenweise schlucken, wie die Großproduzenten, die die Heimarbeiter verschlingen, wie die großen Kreditinstitute und die großen Kaufhäuser, die jede Konkurrenz abwürgen und durch den Ruin der kleinen Banken und der kleinen Geschäfte fett werden; all das führt langsam, aber sicher zu der neuen Gesellschaftsordnung hin … Wir warten, bis alles kracht, bis die gegenwärtige Produktionsweise in letzter Konsequenz zu unerträglichem Elend geführt hat. Dann werden selbst die Bürger und die Bauern uns helfen.«
    Saccards Interesse war geweckt, und

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