Das Geloebnis
legte sich auf einen Streckstuhl aus Rohr, den sie gekauft und unter dem vorspringenden Dach verwahrt hatte. Sie lag da, die Augen mit den Händen bedeckt; das Hündchen kam zu ihr und rollte sich neben ihr zusammen. Das Hündchen lebte, und das Kind war tot. Das hatte keinen Sinn. Zum erstenmal begriff sie ein wenig Shengs Ärger, daß sie einen Hund so hochgeschätzt hatte. Hätte sie bei der Rückkehr den Hund tot aufgefunden, so hätte sie um ein niedliches Ding getrauert, aber nicht geweint. Das Kind jedoch war ein Menschenleben. Jetzt haßte auch sie beinahe den Hund.
Sie weinte nicht mehr, denn sie neigte nicht zu Tränen, und als Liu Ma in einer Rikscha mit dem Sarg zurückkam, half sie ihr, und gemeinsam legten sie das Kind in den Sarg. Der Rikscha-Mann, der auf seine Bezahlung wartete, fand einen zweiten Mann, und dann begaben sie sich alle außerhalb der Stadtmauer, Liu Ma mit dem Sarg in einer Rikscha, Mayli in einer anderen.
Zwei bis drei Kilometer von der Stadt entfernt trafen sie auf einen Bauern, einen alten Mann, dessen Söhne in den Krieg gezogen waren. Nachdem dieser Bauer einige Silberlinge erhalten hatte, hob er am Ende eines Feldes eine Grube aus, und sie legten den Sarg in die Erde.
»Ihr müßt darüber wachen, daß die wilden Hunde das Grab nicht aufscharren«, mahnte Liu Ma den Alten, der sie jedoch auslachte.
»Glaubt Ihr, daß die wilden Hunde heutzutage Gräber aufzuscharren brauchen?« entgegnete er. »Nein, sie sind besser gefüttert als unsereiner!« Er seufzte, spuckte in die Hände, ergriff seinen Spaten und begab sich erneut an seine Arbeit.
Mayli und Liu Ma bestiegen wieder ihre Rikschas und kehrten in die Stadt zurück.
4
In der Nacht erwachte Mayli. Einen Augenblick lauschte sie, um zu hören, was sie geweckt hatte. Aber über der müden, schlafenden Stadt war nur Schweigen. Nichts hatte sie geweckt, das heißt, nichts von außerhalb. Sie lag lauschend da und wurde sich plötzlich aller Dinge bewußt, ihres Körpers und ihres Atems, des Zimmers und des Bettes, auf dem sie lag, des Bettes, auf das sie am Tag das tote Kind gelegt hatte. Alles war wirklich, und doch war nichts wirklich. Sie war zur finstersten Schwermut erwacht, die sie jemals erlebt, zu einer so drückenden Traurigkeit, daß es ihr die Kehle beengte.
»Habe ich einen schlimmen Traum gehabt?« fragte sie sich. Aber nein, ihre Seele war leer außer diesem verzweifelten Gefühl der Verlorenheit. Doch was hatte sie denn verloren? Das Kind war nicht ihres. Konnte sein Tod allein diese Schwermut heraufbeschworen haben? Voll Furcht setzte sie sich auf. Befand sich jemand im Raum, und war sie erwacht, weil sie etwas Böses in ihrer Nähe gespürt hatte? Sie sprang aus dem Bett und zündete die Kerze an, die auf dem Tisch stand, hielt sie hoch und ließ ihren Schein auf die Tür fallen. Aber dort war niemand. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Sie sah Liu Ma auf ihrem Lager schlafen, mit offenem Mund, ein Bild des Friedens. Und doch war irgendwo im Haus diese tiefe Leere.
»Was bedeutet das?« fragte sie sich. Sie begab sich in ihr Zimmer zurück, schloß die Tür und stand da, die Kerze in der Hand. Alles ringsum dünkte sie mit einem Male fremd, und sie sehnte sich nach einem Heim, das sie nicht hatte, um dem Unheil allenthalben um sie herum zu entrinnen. Welches Heim aber? Sie hatte keines außer bei ihrem Vater weit weg.
Beim Gedanken an ihren Vater quoll ihre ganze Sehnsucht auf. Mit jähem Schmerz dachte sie an ihr fröhliches Zimmer in der amerikanischen Stadt, wo er lebte. Sie dachte an die frischen, hellen Vorhänge, die blauen Teppiche auf dem Boden. Weshalb hatte sie jene gute Stätte verlassen?
Sie hatte sie verlassen, weil sie sich an dem Krieg in ihrem Land beteiligen wollte.
»Es wird dich reuen«, hatte ihr Vater sie gewarnt. »Du wirst wünschen, niemals gegangen zu sein. Du bist Kummer und Sorgen nicht gewöhnt.«
»Ich kann nicht zurück«, dachte sie. Die rote Linie ihrer vollen Lippen wurde gerade. »Ich will nicht zurück«, dachte sie.
Sie blies die Kerze aus, kroch wieder ins Bett, zog die rotgeblümte seidene Steppdecke über den Kopf und kuschelte sich darunter, um Schutz zu suchen. Aber was für einen Schutz gewährte die Decke? Liu Ma hatte sie fertig gekauft, sie war für die kleinen Frauen hier zugeschnitten, nicht für eine großgewachsene Frau. So wurden Maylis Füße entblößt, als sie die Decke über den Kopf zog, und als sie die Füße bedeckte, war ihr Kopf frei; sie
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