Das Geloebnis
dir in Berührung kommt«, mahnte er sie. »Auch ich habe darauf geachtet, daß mein Leib nicht mit ihm in Berührung kam. Nur der Priester hat ihn angefaßt, und er ist heilig und wird keinen Schaden nehmen.«
»Aber es sollte einem Aussätzigen nicht erlaubt sein, sich unter andere zu mischen!« rief sie. »Glaubst du, daß im Land Mei oder im Land Ying ein Aussätziger unter dem Volk dahingehen dürfte?«
»Aber was würden sie denn mit ihm machen?« fragte Sheng erstaunt. »Gewiß würden sie einen Mann, der seine Krankheit nicht heilen kann, nicht dem Tod ausliefern.«
»Nein, natürlich nicht. Aber sie würden ihn an einen Ort schaffen, wo lauter Aussätzige sind und wo kein Gesunder sich aufhalten darf.«
»Aber das ist doch auch ungerecht«, entgegnete Sheng ernst. »Muß ein Mensch im Gefängnis sein, weil er eine Krankheit hat, die nicht zu heilen ist?«
»Oh, du verstehst aber auch gar nichts!« rief sie ungeduldig. »Es geschieht doch um derjenigen willen, die nicht aussätzig sind!«
Er blickte sie an und sah ihr staubiges Gesicht und ihre Haare und ihre Wangen, die, sonst stets rosig, jetzt so blaß waren.
»Laß uns nicht streiten, nachdem wir gerade erst dem Tod entronnen sind«, begütigte er. »Wir beide streiten über alles, was zu uns kommt. Vielleicht ist es besser, daß ich fortgehe und dich verlasse. Denn ich fange an zu erkennen, daß du fortwährend mit mir streiten wirst, weil ich nicht bin, was du wünschest.«
Er sah ihre rote Unterlippe zittern, und dann wandte sie den Kopf ab, und sie gewahrte die Stadt. Eine Weile hatten sie die Stadt vergessen, doch da lag sie, zerschmettert vom Feind. Vier große Feuer flammten, und die Rauchwolken stiegen zum hellen Abendhimmel empor. Plötzlich begann sie zu schluchzen.
»Was ist denn?« rief er erschrocken, denn er hatte sie noch nie zuvor weinen sehen.
»Ich bin so wütend! Ich bin so wütend, daß wir hilflos sind. Was können wir tun? Wir warten, daß sie kommen und uns töten, und wir können nichts anderes tun als uns verbergen!«
Er ergriff ihre Hand, und sie beobachteten die Feuer. Der Lärm ferner Stimmen erhob sich, als die zusammenströmenden Leute Wasser aufs Feuer warfen, aber die beiden rührten sich nicht vom Fleck, um zu helfen. Es gab dort Menschen genug – alles, was die Stadt bewahrt hatte, waren Menschen!
Liu Mas Stimme drang scheltend von der Straße herauf. »Wollt ihr dort in der Kälte bleiben? Bald ist es Abend. Ich gehe heim, um den Reis zu kochen.«
Sie kletterten hinunter und folgten ihr; sie fühlten sich matt, und ihre Herzen waren kalt von dem, was sie gesehen hatten, und beide waren müde.
»Ich muß zu meinen Leuten zurück«, sagte Sheng.
»Wirst du noch einmal zu mir kommen, bevor du nach Burma ziehst?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Sie waren stehengeblieben. Hier, wo die Straße nach Norden abzweigte, war ein Haus unter einer Bombe zusammengestürzt; ein junger Mann wühlte laut weinend mit den Händen in den Trümmern.
»War das Euer Haus?« rief Liu Ma ihn an, und ihr altes Gesicht wurde noch runzliger vor Mitleid.
»Mein Haus, mein Seidengeschäft und alles, was ich hatte, sind hier begraben«, schluchzte der Mann, »meine Frau und mein alter Vater und mein Söhnlein!«
»Wie seid Ihr davongekommen?« fragte sie und begann ebenfalls zu wühlen. Sheng blickte sich nach einem Gegenstand um, mit dem er graben könnte.
»Ich ging einen Augenblick hinaus, um zu schauen, wo die Flugzeuge sich befanden, und da waren sie gerade über meinem Kopf.« In diesem Moment stieß der Mann auf ein Stück rotgeblümtes Tuch. »Das ist die Jacke meines Söhnchens!« schrie er auf.
Sheng hatte inzwischen eine Tragstange erspäht, die neben einem toten Bauern lag. Die Reiskörbe des Mannes an beiden Enden der Stange waren so unversehrt, als kämen sie gerade erst aus der Werkstatt, aber ein Metallstück, das durch die Luft geflogen war, hatte den Mann zwischen die Augen getroffen und seinen halben Kopf so sauber abgeschnitten, wie ein Messer eine Melone teilt. Sheng nahm die Stange und begann damit zu graben. Als Mayli das geblümte Tuch sah, kniete sie auf dem Steingeröll nieder und wühlte ebenfalls mit den Händen.
Bald war das Kind befreit, und der junge Vater nahm es in seine Arme. Aber das Kind war tot. Keiner von ihnen sprach, während der junge Mann das Kind wiegte und so herzzerbrechend schluchzte, daß schließlich niemand mehr die Tränen zurückhalten konnte. Mayli wischte sich die Augen mit
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